Opinion Wissenschaft, Politik und Covid-19

Wissenschaftliche Beratung muss transparent sein, besonders in Krisenzeiten

Die meisten europäischen Länder haben den Lockdown aufgehoben. Folgende Fragen werden nun die Diskussionen beherrschen: Wer hat es richtig gemacht und wer nicht, welche Ansätze waren die effektivsten, was können wir daraus lernen, wie können wir die Regierungen zur Rechenschaft ziehen?

Veröffentlicht am 30 Juni 2020 um 11:42

Wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen, dürfen wir nicht vergessen, dass die COVID-19-Pandemie noch nicht vorbei ist. Der Weg aus der Krise wird noch lang sein, und wenn die Regierungen nicht klar und transparent erklären, warum sie bestimmte Entscheidungen getroffen haben und anhand welcher Daten und Ratschläge sie gehandelt haben, wird dies das Vertrauen der Öffentlichkeit und die Bereitschaft der Gesellschaft vermutlich beeinträchtigen, und sie daran hindern, den ihnen gestellten Anforderungen gerecht zu werden.

Die genaue Untersuchung der Regierungsaktionen hat Vorwürfe ausgelöst: Einige Regierungen hätten die Wissenschaft ignoriert, während andere jede Schuld von sich weisen und erklären, dass sie den Ratschlägen der Wissenschaft gefolgt wären. 

Dies ist eine Karikatur der Wissenschaft und der Rolle, welche die Wissenschaftler in einer Krise der öffentlichen Gesundheit spielen und spielen sollten. Wissenschaftler werden weiterhin eine große Rolle spielen: Von der Erforschung von Impfstoffen und Behandlungsmethoden über die Modellierung der Ausbreitung der Krankheit bis hin zur Bewertung der Risiken verschiedener Aktivitäten und der Beurteilung, wie das Gelernte am besten vermittelt werden kann.

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Zudem müssen sie die Politiker beraten. Die Regierungen müssen von zahlreichen Experten beraten werden: Von Epidemiologen und Virologen bis hin zu Psychologen und Wirtschaftswissenschaftlern. Wissenschaftler müssen ihnen dabei helfen, den sich ständig verändernden Status zu beurteilen, die damit verbundenen Unsicherheiten zu verstehen, und mögliche Lösungen für diese Probleme anzubieten. Für ein so komplexes Problem gibt es allerdings keine einfache, direkte Antwort. Die Politiker müssen diese Entscheidungen treffen und ihre Bürger durch die Krise führen.

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Wenn aber unklar ist, wer Ratschläge erteilt, was ein Ratschlag bedeutet, und welche politischen Entscheidungen getroffen wurden, ist es schwierig, konstruktive Untersuchungen zu führen. 

Neben zahlreichen anderen strukturellen Mängeln hat die Pandemie auch den Mangel an Transparenz in den wissenschaftlichen Beratungsprozessen der Regierungen offenbart, insbesondere in Ländern, die hart getroffen wurden, und in welchen der Wunsch nach Rechenschaftspflicht besteht.

Der Druck der Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich hat dazu geführt, dass die der Regierung beigeordnete wissenschaftliche Beratergruppe SAGE einige ihrer Beratungsberichte veröffentlicht hat. Allerdings blieben mehrere Fragen offen, unter anderem, wann die Berater einen Lockdown empfohlen haben, und ob die Regierung diesen Rat ignorierte oder nicht. In Spanien hat der Mangel an Transparenz zu öffentlichen politischen Konfrontationen geführt, insbesondere in Bezug auf die Entscheidungen, welche Regionen die nächste Phase der Entsperrungsmassnahmen  einleiten sollten.. 

Der Mangel an Transparenz und Klarheit darüber, welche wissenschaftlichen Empfehlungen einer Regierung gemacht wurden, und welche Entscheidung die Regierung dann getroffen hat, ist nicht nur ein Problem der Verantwortlichkeit. Er schadet auch dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die getroffenen Entscheidungen. Ohne dieses Vertrauen wird es schwieriger sein, die Unterstützung der Bürger für die Entscheidungen zu gewinnen, und sie zu deren Umsetzung zu motivieren.

Wissenschaftler müssen in der Lage sein, den Politikern die Wahrheit sagen zu können. Wenn Wissenschaftler die Politiker, die sie über soziale Medien beraten - wie in Großbritannien – kritisieren müssen, oder – wie in Belgien - sich zum Rücktritt entschließen, beweist dies, dass die Beziehung beeinträchtigt ist. Wenn diese Kommunikation nicht funktioniert und die Politiker für Ratschläge unempfänglich sind - so unerfreulich sie auch sein mögen -, dann verliert am Ende die gesamte Gesellschaft. 

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Bewährte Praktiken für die Interaktion zwischen wissenschaftlichen Beratern und Politikern befinden sich zum Beispiel im Dokument The Principles for Scientific Advice to Government in the UK, das jüngste Dokument der OECD zu diesem Thema, oder in diesem kurzen Artikel der spanischen Gruppe Ciencia en el Parlamento (Wissenschaft im Parlament). Sie alle bekräftigen die Notwendigkeit von Offenheit und Transparenz als Grundlage für gegenseitiges Vertrauen, aber auch als entscheidend für die Einbindung der Gesellschaft und die Stärkung des demokratischen Prozesses. 

Die COVID-19 Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, wie notwendig eine kollektive Anstrengung der Zivilgesellschaft ist. Regierungen können und sollten zwar durch die Krise führen, um die Krise aber zu bewältigen, braucht es die Anstrengungen aller Bürger. Die Anforderungen an die Bürger sind hoch: Medizinisches Personal mit begrenzter Schutzausrüstung, unverzichtbare Mitarbeiter mit Kindern, die arbeiten müssen, wenn Schulen geschlossen sind, Menschen, die in manchmal schwierigen Situationen zu Hause bleiben müssen, Familien, die von ihren Angehörigen nicht Abschied nehmen können, usw.

Entscheidungen, wie z. B. die Erlaubnis, zu jeder beliebigen Tageszeit auf einer Kaffeeterasse im Freien zu sitzen, aber nur zu einer bestimmten Uhrzeit spazieren gehen zu dürfen, wie es die spanische Regierung beschlossen hatte, oder die Anforderung, nur in bestimmten Straßen eine Maske zu tragen, wie es von den belgischen Behörden beschlossen wurde, können willkürlich und skurril erscheinen.

Mit der Fortsetzung der Pandemie werden die Regierungen das Engagement ihrer Bürger weiterhin brauchen, um die Krise erfolgreich zu überstehen. Wir werden alle mit höheren  Anforderungen rechnen müssen Regierungen werden die Maßnahmen ständig anpassen müssen.ie in Frankreich, wo einige Schulen, die wieder geöffnet hatten, wieder schließen mussten, weil sich die Lage und die Empfehlungen geändert hatten. 

In vielen europäischen Ländern ist das Vertrauen in die jeweiligen Regierungen bereits angeschlagen. Eine kürzlich per Newsletter veröffentlichte Meinungsumfrage des EU-Parlaments zeigt dass,"die von der Covid-19-Pandemie betroffenen Personen im Allgemeinen diejenigen sind, die am pessimistischsten sind [sic] und am unzufriedensten, insbesondere mit der Art und Weise, wie ihre Regierungen der Gesundheitskrise begegnet".

Regierungen und Wissenschaftler müssen schon jetzt Fehlinformationen auf sozialen Netzwerken entgegentreten, und auf eine überwältigende Menge an nicht-kontextbezogenen Informationen über die Pandemie reagieren, die manchmal als Infodemie bezeichnet wird..

Ein Beispiel für mögliche Folgen: Die Sorge ist bereits groß, dass sich die Bevölkerung durch einen Mangel an Vertrauen nicht impfen lässt, wenn einen Impfstoff zur Verfügung steht. Wenn dieser Anteil der Bevölkerung hoch ist, könnten alle Bemühungen zur Eindämmung der COVID-19-Ausbreitung ernsthaft gefährdet sein.

Wir müssen die Bürger weiterhin in die Lage versetzen, politische Entscheidungen zu hinterfragen und sich aktiv mit ihnen zu befassen . Wir brauchen nicht nur Transparenz im Entscheidungsprozess, sondern auch, damit die bestehenden Unsicherheiten und Komplexitäten bewältigt werden. Wir müssen uns bewusst machen, das die Anpassung der Entscheidungen an neue Erkenntnisse  ein Vorteil ist anstatt Regierungen wegen Widersprüchlichkeiten anzuprangern. 

Transparenz allein wird nicht ausreichen, um eine angemessene  Reaktion auf die Krise zu gewährleisten. Aber sie ist kein Luxus, auf den wir verzichten können.

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