Vereinigtes Königreich

Das Gesicht der konservativen Revolution

Verehrt von jenen, die ihren Stil und ihre kompromisslose Politik schätzten, gehasst von jenen, die ihr fehlendes Einfühlungsvermögen und ihren Ultraliberalismus ankreideten: Margaret Thatcher lässt niemanden in Europa kalt. Am Tag nach ihrem Tod im Alter von 87 Jahren spiegelt sich in der europäischen Presse diese Kluft der Gefühle wieder.

Veröffentlicht am 9 April 2013 um 15:16

Für Die Welt hat „Maggies“ Einfluss weit über ihre Amtszeit in der Downing Street hinaus Großbritanniens Politik geprägt: „Ihre Ablehnung der Europäischen Union ist heute noch Mainstream auf der Insel“, schreibt die konservative deutsche Tageszeitung und meint:

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Die Eiserne Lady hat ein Erbe hinterlassen, das bis zum heutigen Tag weit über die britischen Grenzen hinaus zu spüren ist: ihr anfangs offenes, immer schwierigeres und am Ende feindschaftliches Verhältnis zur Europäischen Union. Bis zum heutigen Tag herrscht unter den Tories ein Bürgerkrieg über das Für und Wider der EU- Mitgliedschaft, der das Potenzial hat, die Konservativen irgendwann sogar zu spalten.

Die konservative italienische Tageszeitung Libero verabschiedet sich von „der Eisernen Lady, die Italien brauchen würde.“ „Thatcher lässt uns allein mit dem Merkel-Alptraum“, titelt das Blatt und fragt: „Welches Europa hätten wir heute, wäre Thatcher 1990 nicht zurückgetreten?“

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Wäre es dasselbe gewesen? Ein Europa, zerquetscht unter der Sohle von Merkel-Deutschalnd, mit gemeinsamer Währung, Fiskalpakt und allem, was uns die Luft nimmt? Vermutlich nicht. [...] Die Lady, die einer altmodischen Tante glich, hätte ein Europa, so wie wir es heute erleben, nie zugelassen. Sie sah in dem Maastricht-Föderalismus eine Form des Sozialismus, den sie immer bekämpft hat. [...] Sie sah im Euro einen Souveränitätsverlust. Sie verabscheute das Einheits-Credo der Föderalisten. Sie wollte ein geeintes, aber kein totes oder seelenloses Europa. [...] Was viele erst 20 Jahre später begriffen, hatte die Eiserne Lady bereits vorausgesehen und bekämpft. Leider umsonst.

Die linksliberale französische Tageszeitung Libération spricht von der „großen Sensefrau“ [„La grande faucheuse“], ein Wortspiel, dass sowohl den Tod (Sensemann), als auch eine Diebin oder eine Mähmaschine bezeichnen kann, und macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung für eine Frau , die „eine neue Ideologie erfunden hat: den Thatcherismus, der, obwohl er nachweislich versagt hat, weiter floriert. [...] Die Krise der Nullerjahre ist auch die Krise des Thatcherismus, den Thatchers Gefolgsleute ins Extreme getrieben haben”, führt das Blatt aus und meint:

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Elf Jahre lang verkörperte sie den triumphierenden Liberalismus der Achtzigerjahre. Ein paar simple Ideen, die sie als neues Evangelium verkaufen konnte: Gelobt seien die Privatisierungen, die Deregulierungen — vor allem in der Finanzbranche —, gelobt seien Flexibilität des Arbeitsmarkts und Angriffe auf Gewerkschaften. Ideen, die sie mit der Überzeugung eines Predigers durchsetzte, indem sie erklärte, dass es keine Alternativen gäbe, das berühmte TINA: „There is no alternative“. Die Bergarbeiter, die Argentinier, die irischen Hungerstreikenden fielen ihren unerschütterlichen Überzeugungen zum Opfer. [...] Sie zwang ihre Vision der Gesellschaft zunächst ihrer Partei und ihrem Land auf, bevor sie damit auch den Rest der Welt erreichte, das Amerika unter Reagan vor allem, aber auch die europäische Linke.

In Prag, weist Hospodářské noviny darauf hin, dass neben Ronald Reagan und Johannes Paul II. auch Margaret Thatcher zur Auflösung des Ostblocks und zum Ende des Kalten Kriegs beigetragen hat. Die unberührbare „Ikone des wirtschaftlichen Wandels der Tschechoslowakei”...

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habe den Weg aufgezeigt, wie man sich von einer maroden Gesellschaft in eine dynamische Marktwirtschaft mit individuellen Freiheiten mausert, sagte man. Den Tschechen bleibt aus den Revolutionsjahren in den Neunzigerjahren eine idealisierte Vision in Erinnerung. Niemand spricht von Thatchers konservativen Reformen und deren Folgen: eine erdrückende Atmosphäre in Großbritannien, sowie eine soziale Krise.

In der ehemaligen Sowjetrepublik Estland wird auch die Rolle Thatchers beim Zusammenbruch des kommunistischen Blocks hervorgehoben. So spricht die Tageszeitung Postimees von „der Ikone des Antikommunismus“, deren Regierungsstil Vorbild für zahlreiche Politiker des Postkommunismus wurde:

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Ihre Schlagwörter wie „Minimal-Staat“, „Markt“, „Privatisierungen“ und so weiter gingen in den postkommunistischen Ländern weg wie warme Semmeln. [...] Thatcher war eine Euroskeptikerin der besonderen Art, ohne Populismus. Sie hatte vorausgesagt, dass mehr europäische Integration Probleme schaffen würde und ein utopisches Projekt sei. Sie sah in der Union eher eine riesige Freihandelszone. Wir werden uns an sie als die „Eiserne Lady“ erinnern, die gemeinsam mit Ronald Reagan den Kalten Krieg gewonnen hat, das sowjetische Imperium zum Zusammenbruch führte, und uns nach all diesen Ereignissen noch lange weiter unterstützt hat.

In Bukarest nimmt Adevărul mehrere Legenden über Margaret Thatcher unter die Lupe und analysiert ihren „knallharten Regierungsstil“:

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Sie war eine hartnäckige Person und eine Moralistin. — Im Gegenteil. Sie hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor und zeigte sich dem Verhalten ihrer männlichen Kollegen, die oftmals in Sex-Skandale verwickelt waren, gegenüber gleichgültig. Sie war gegen die europäische Einigung. — Völlig daneben: Thatcher hat die europäische Einigung mit Leidenschaft verteidigt! 1975 leitete sie für die Tories die Kampagne für ein „Ja“ zum EU-Beitritt. Der Einheitliche Europäische Akt von 1986, der den Vertag von Rom modernisierte und die Befugnisse der EWG erweiterte, war ihre Initiative. Der Thatcherismus hat die Finanzkrise verursacht — Komplett falsch: Die Deregulierung des Bankensektors, wie sie Thatcher befürwortete, hat nichts gemein mit der fehlenden Kontrolle, welche die Krise — welche an der Wall Street begann — erst ermöglichte. Sie war für strikte Bankvorschriften.

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