Deutschlands neuer Aktivismus

Deutschland profitiert von seiner gesunden Wirtschaft, um seine Präsenz auf der internationalen Bühne zu verstärken. Der Handel ist der Motor einer Diplomatie, die ansonsten nicht bereit ist, international zu intervenieren, da Auslandseinsätze der Öffentlichkeit weiterhin schwer zu vermitteln sind.

Veröffentlicht am 2 April 2013 um 15:04

Am 7. und 8. April wird Wladimir Putin in Deutschland erwartet. Genauer gesagt in Hannover, wo der russische Präsident mit Angela Merkel die Hannover-Messe eröffnen wird, deren Partnerland in diesem Jahr Russland ist. Die größten russischen Unternehmen sind selbstverständlich vor Ort. Im Jahr 2012 hatte die deutsche Kanzlerin dieselbe Übung in Begleitung des chinesischen Ministerpräsidenten absolviert. Damals war in der Tat China Partnerland der Messe. Zwei typische Beispiele für die Osmose von deutscher Wirtschaft und Diplomatie.

Der deutsche Industrieexport wird nicht nur als Folge der Wettbewerbsfähigkeit gesehen, sondern ist ein Ziel an sich geworden. Ein Markenzeichen, ein Grund des Stolzes — das linke Lager und die Gewerkschaften mit eingeschlossen. Eine Absicherung gegen den demographischen Rückgang, denn der Handelsüberschuss von heute, wird es morgen zumindest teilweise ermöglichen, die sozialen Kosten zu finanzieren.

Für das Land, welches nach dem Zweiten Weltkrieg es jahrzehntelang nicht wagte, irgendwelche Interessen geltend zu machen — „Unsere Interessen waren automatisch deckungsgleich mit denen unserer Verbündeten und Nachbarn“, erklärt ein Diplomat — ist der Handel ein ideales Tor zur Welt.

Besonders China lockt die Kanzlerin

Deshalb reist Angela Merkel um die Welt. Seit 2007 hat sie sage und schreibe 274 Auslandsreisen auf dem Zähler: 168 innerhalb Europas, 59 nach Asien, 29 nach Nordamerika, 11 nach Afrika und 7 nach Lateinamerika. Selbst die kleine Republik Moldau durfte sich ihres Besuchs erfreuen. In diesem übervollen Terminkalender nimmt China einen ganz besonderen Platz ein. Sechs Mal war die Kanzlerin dort mehrere Tage auf Staatsbesuch, zwei Mal allein im Jahr 2012. Das ist natürlich kein Zufall. In den vergangen zehn Jahren stieg der Handel mit China von 36 auf 144 Milliarden Euro. China ist für Deutschland zum drittgrößten Handelspartner geworden (hinter Frankreich und den Niederlanden). Und sechs Mal in den vergangenen zehn Jahren hatte das Land einen Handelsüberschuss zu verzeichnen.

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Ein weiteres Beispiel für die deutsche Vorgehensweise sind die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die, das versteht sich von selbst, weit über den wirtschaftlichen Rahmen hinausgehen. Die Verankerung in die NATO ist eine der Säulen der deutschen Diplomatie. Aber Berlin hat es auch verstanden, die privilegierten Beziehungen zu Washington zu nutzen, um auf spektakuläre Art und Weise die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA wieder in Gang zu bringen. Zum Wohle der deutschen Industrie schreckte Frau Merkel auch nicht davor zurück, die für dieses Dossier zuständige Europäische Kommission zu düpieren und einen neuen Streit mit Frankreich anzuzetteln, das dem Thema wesentlich zurückhaltender gegenübersteht. Selbst der Multilateralismus, der Eckpfeiler der deutschen Diplomatie, wurde dem übergeordneten Ziel geopfert.

Roter Teppich für kasachischen Präsidenten

Bei einem weiteren Thema besteht in Deutschland Einhelligkeit: Der Zugang zu Rohstoffen. Ein ernstes Thema, denn ohne Rohstoffe wird ein großer Teil der deutschen Industrie eines Tages auf den Trockenen stehen. Weshalb Frau Merkel auch im Februar 2012 — mitten in der Griechenland-Krise — für den kasachsischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew den roten Teppich ausrollen ließ. Beide unterzeichneten ein Abkommen, das deutschen Unternehmen den Abbau des kasachischen Urans sichert. Menschrechtsaktivisten protestierten — der Arbeitgeberverband applaudierte. Übrigens wurde gemunkelt, dass der kasachische Diktator die Gelegenheit genutzt hätte, um sich in einer Hamburger Klinik behandeln zu lassen.

Ganz unauffällig ist Deutschland auch zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt geworden (hinter den USA und Russland). Das Land profitiert vom Erfolg der deutschen U-Boote (beispielsweise für die israelische Marine) und der deutschen Panzer, von denen Saudi-Arabien und Algerien eine hundert Exemplare kaufen wollen, um ihren diplomatischen Einfluss in Nordafrika und im Nahen Osten zu stärken. Merkel zögert auch nicht, die Feindseligkeit einiger Länder gegenüber Frankreich für sich zu nutzen, wie ihre sehr aktive Präsenz im Maghreb zeigt.

Angela Merkel hat mit einem weiteren Tabu gebrochen: Sie verkauft, ohne mit der Wimper zu zucken, Waffen an befreundete Länder — selbst in Krisengebiete. In Deutschland kritisiert die Opposition die „Merkel-Doktrin“, welche nur kurzfristig denkt. Doch die politische Mehrheit, sowie zahlreiche Experten sehen hier eher die Formalisierung einer Politik, wie sie schon ihr sozialdemokratischer Amtsvorgänger Gerhard Schröder betrieb.

Waffenexporte ja, Kriege nein

Doch selbst wenn sich Deutschland in mehreren Ländern an Einsätzen zur Friedenssicherung beteiligt (unter anderem mit 4500 Soldaten in Afghanistan, 730 im Kosovo, 320 am Horn von Afrikan 300 in der Türkei, 150 im Libanon und seit kurzem 330 in Mali und im Senegal), so wird das Entsenden von Truppen in Deutschland ungern gesehen und stellt für die Kanzlerin ein echtes politisches Risiko dar.

Als Kommentar zu einer Serie, die im Deutschen Fernsehen die Debatte über die Beteiligung des Normalbürgers an den Naziverbrechen neu entfachte, titelte der Spiegel vom 25. März: „Das ewige Trauma: der Krieg und die Deutschen.“ (Siehe auch Themenseite auf Spiegel TV). Daher die UNO-Enthaltung Deutschlands im November 2011 zum Libyen-Einsatz, daher das minimale Engagement in Mali, daher Deutschlands Sorge, nicht in den Syrienkonflikt verstrickt zu werden. Meistens kritisieren Experten (und die Presse) die Zurückhaltung von Merkel und ihrem Außenminister Guido Westerwelle, doch die Bürger stimmen ihr zu.

Viel Handel, wenig Menschenrechte und eine Minimalbeteiligung an NATO- und UN-Missionen: Sieht so eine kohärente Außenpolitik aus? „Nein“, schimpft der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag und ehemalige Außenminister (2005-2009) Frank-Walter Steinmeier. Ein Urteil, das Eberhard Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik für „überzogen“ hält. Für ihn sei Deutschland dabei, sich „den Entwicklungen in der Welt anzupassen“, auch wenn es dem noch schwer falle, seine Macht — vor allem gegenüber den Vereinigten Staaten — auszuspielen.

Feigheit oder Wille zur Autonomie?

Die Enthaltung Deutschlands beim UN-Entscheid zum Libyen-Einsatz kann als mangelnder Mut der viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt ausgelegt werden, aber auch als Zeichen von einer relative Autonomie, die das Land nach und nach gegenüber seinen beiden Hauptverbündeten — Frankreich und den Vereinigten Staaten — erringt. Die Zaghaftigkeit Deutschlands, Truppen in Kriegsgebiete zu entsenden, darf also nicht dazu verleiten, die Macht der deutschen Diplomatie zu unterschätzen. Auch wenn die Deutschen selbst ihren Einfluss oftmals kleinreden und nicht immer die richtigen Konsequenzen ziehen wollen.

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