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Die demokratischen Herausforderungen Europas nach der Pandemie

Der Einmarsch in die Ukraine hat das Ende der Pandemie in Europa markiert und den Beginn einer neuen, noch ernsteren Krise. Im Gegensatz zu den vorigen fällt diese mit der Wahlniederlage der populistischen Parteien in den meisten europäischen Ländern und einer plötzlichen Beschleunigung anderer Veränderungen zusammen - wie die Energiewende, die Beziehungen zu Russland oder eine gemeinsame Verteidigung. Die Folgen sind laut Politikwissenschaftler Cas Mudde noch nicht absehbar.

Veröffentlicht am 12 Mai 2022 um 11:17
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Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Jahres 2022 hinter uns, und ich kann schon jetzt sagen, dass das Jahr weder das ist, was ich vermutet habe, noch das, was ich mir erhofft habe. Sicher, die Pandemie war letztlich doch nicht der "große Umstürzler"; tatsächlich haben die meisten Regierungen fast alle COVID-19-Maßnahmen beendet und wir wünschen uns nichts mehr, als dauerhaft in der Post-COVID-19-Ära angekommen zu sein.

Das hätten wir wahrscheinlich auch ohne die (erneute) russische Invasion in der Ukraine getan, aber sie hat definitiv dazu beigetragen, die Denkweise und die Prioritäten vieler Europäer zu verändern. Und auch wenn es stimmt, dass der Illiberalismus den Brexit als Hauptthema der EU abgelöst hat, so handelt es sich dabei jetzt eher um eine externe als um eine interne Angelegenheit, denn Sorgen macht nun Wladimir Putins Russland und nicht mehr Viktor Orbáns Ungarn, geschweige denn Jarosław Kaczyńskis Polen. 

Der neue russische Einmarsch in die Ukraine ist die fünfte politische Krise des 21. Jahrhunderts - nach 9/11, der großen Rezession, der sogenannten Flüchtlingskrise und der COVID-19-Pandemie. Damit kommen wir ungefähr alle fünf Jahre auf eine Krise! Der Krieg in der Ukraine hat die politische Aufarbeitung der Pandemie aufgeschoben. Dabei wird diese Krise wahrscheinlich die bedeutendste von allen sein, möglicherweise sogar noch krasser als 9/11. Sie hat sich bereits auf einige der wichtigsten nationalen Wahlen in Europa ausgewirkt und ironischerweise sowohl Viktor Orbán in Ungarn als auch Emmanuel Macron in Frankreich geholfen. Und auch wenn Ersterer in seiner Heimat größere Erfolge verbuchen konnte, in freien, aber unfairen Wahlen, wird Letzterer auf europäischer Ebene als Hauptgewinner hervorgehen.


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Orbán überraschte seine Freunde und Feinde mit seinem massiven Wahlerfolg. Dabei nutzte er die Kontrolle der staatlichen Medien optimal – die Opposition bekam dort gerade einmal fünf Minuten Sendezeit – und machte den Ukraine-Krieg eher zu seinem Vorteil als zu einem Nachteil, indem er sich als zuverlässiger und stabiler Führer präsentierte, der Ungarn aus dem Krieg heraushalten und die Energiepreise niedrig halten kann.

Doch während seine "neutrale" Position zu Hause gut ankam, wo sowohl die von der Fidesz kontrollierten privaten als auch die öffentlichen Medien weiterhin stark pro-russisch berichten, isoliert sie ihn zunehmend außerhalb des Landes. Nach der Niederlage des tschechischen Regierungschefs Andrej Babis bei den Wahlen im letzten Jahr und der Niederlage des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz wegen eines handfesten politischen Skandals wird Orbán mit dem slowenischen Premierminister Janez Jansa, der die Wahlen letzten Monat verloren hat, bald einen weiteren Verbündeten verlieren. 

Vor allem aber hat der Ukraine-Krieg einen immer tiefer werdenden Riss in dem Budapest-Warschau-Bündnis verursacht, das den Kern der illiberalen Front innerhalb der EU bildet. Während viele politische Beobachter und Journalisten oft die Unterstützung für Putin seitens der Rechtsextremen betonen – obwohl diese längst nicht so stark ist wie die seitens der Linksextremen – ist der Krieg nicht wirklich eine Spaltung zwischen dem politischen "Mainstream" und den "Populisten". Tatsächlich sind im Europäischen Rat sowohl die stärksten Gegner als auch die stärksten Befürworter Putins (rechtsradikale) Populisten, nämlich die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die ungarische Fidesz-Partei. In den letzten Monaten hat Orbán jedoch bei verschiedenen regionalen Pro-Ukraine-Veranstaltungen gefehlt, da sich die Visegrad-4-Gruppe rasch in eine Visegrad 3 verwandelt hat, nachdem sich Tschechien, Polen und die Slowakei aus Protest gegen Ungarns pro-russische Haltung geweigert hatten, an einem V4-Treffen der Verteidigungsminister teilzunehmen.

Macron nutzte den Ukraine-Krieg, um sich als weltpolitische Führungspersönlichkeit zu präsentieren. Er hatte sich häufiger mit Putin als seine amerikanischen, britischen oder deutschen Amtskollegen getroffen, wurde jedoch von vielen Franzosen in einer Art Zwangswahl in seinem Amt bestätigt, um Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu besiegen. Frisch wiedergewählt und als Vorsitzender des Europäischen Rates hat er den Europatag dafür genutzt, um seine Ambitionen für ein liberales, demokratisches Europa zu erläutern – ironischerweise am selben Tag, an dem Putin den Tag des Sieges seines Landes über Nazi-Deutschland nutzte, um seine Vision für ein illiberales Europa zu verfestigen. Da Deutschland seit Jahrzehnten wirtschaftlich abhängig von Russland ist und daher keine radikalen Maßnahmen gegen das Land ergreifen kann, blickt Europa nun auf Frankreich, um die Führung zu übernehmen. Macron ist froh, dies zu tun, vor allem, weil im Juni Parlamentswahlen anstehen, die maßgeblich darüber entscheiden werden, wie seine zweite Präsidentschaft aussehen wird, also ob er gezwungen sein wird, mit einem Premierminister einer anderen Partei eine Koalition eingehen zu müssen, wodurch seine zweite Amtszeit blockiert und in einem politischen Stillstand enden könnte.

Wie auch immer die französischen Parlamentswahlen ausgehen werden, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen wichtige Entscheidungen treffen. Kurzfristig gesehen werden die Verteidigungs- und die Energiepolitik ganz oben auf der Agenda stehen, und beide müssen nach Jahrzehnten der Selbstgefälligkeit und Vernachlässigung grundlegend verändert werden. Gleichzeitig steht die Erweiterung der EU (und der NATO) wieder auf der Tagesordnung, insbesondere die Aufnahme der Ukraine und der westlichen Balkanstaaten. All diese Themen gehen mit der altbekannten Rede vom Schutz des liberalen demokratischen Europas vor dem illiberalen Russland einher. Die große Frage ist, wie sich dieser externe Kampf gegen den Illiberalismus auf die internen europäischen Konflikte auswirken wird.

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