Die Märkte danken uns die Pleiten

Die immer lauter werdenden Gerüchte über einen Zahlungsausfall Griechenlands haben die Märkte nicht etwa abstürzen lassen, sondern beflügelt. Folgerung: Lange Agonien und das Herumfackeln um das Schicksal der Eurozone sind schlimmer als ein Zahlungsausfall, findet ein irischer Ökonom.

Veröffentlicht am 28 September 2011 um 15:32

Ist Ihnen in den letzten beiden Tagen etwas Sonderbares an den Finanzmärkten aufgefallen? Die europäischen Börsen haben sich infolge des Gerüchts, man werde Griechenland einen “abgegrenzten” Zahlungsausfall erlauben, doch tatsächlich wieder gefangen. Das sollte man sich durchaus näher ansehen, lautet doch die “offizielle” Position der politischen Elite in Irland und Europa, dass jeder beliebige Zahlungsausfall, ganz egal von wem und warum, eine Katastrophe wäre und zu massiver Kapitalflucht und einem finanziellen Massaker führen muss.

Wenn das stimmt, warum haben dann die Märkte in den letzten beiden Tagen genau das Gegenteil angekündigt? Die letzte Bewegung der Finanzmärkte zeigt, dass ein Zahlungsausfall sogar die Situation der Anleger beruhigt. Es ergibt scheinbar Sinn, zu akzeptieren, dass ein Land wie Griechenland kein Geld hat und demzufolge nicht zahlen kann. Verhindert man den Ablauf dieses elementaren kapitalistischen Vorgangs (bei welchem die Investoren für ihre Fehler zahlen), dann bringt man das ganze System ins Wanken.

Sehen wir uns einmal an, wie das Risiko im europäischen Bankensystem in den letzten Wochen wahrgenommen wurde. Es ist in die Höhe geschnellt. Interessanterweise stieg das wahrgenommene Risiko auch im Vorfeld der Lehman-Krise enorm an. Nach Lehmans Zahlungsausfall und Zusammenbruch ging es wieder zurück. Es ist wichtig, dass das nach Lehmans Zahlungsausfall passierte.

Der Markt möchte den Zahlungsausfall

Die Lage entspannte sich und sogar während der verschiedenen Griechenland-, Irland- und Portugalkrisen, im letzten Jahr hatte man den Eindruck, die Dinge würden sich legen. Jetzt hat der Gedanke, in Europa braue sich eine massive Schuldenkrise zusammen und es gebe keine führenden Politiker, die damit umgehen könnten, dieses Bankenrisiko wieder durch die Decke gejagt.

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Damit es wieder nachgeben kann, ist der einzige Weg ein Zahlungsausfall Griechenlands und natürlich auch der anderen Länder, die nicht zahlen können. Wie die Marktreaktion gezeigt hat, können wir alle in die Zukunft blicken, wenn wir alte Schulden nicht bezahlen und einen Fonds einrichten, damit das garantiert nicht wieder passieren kann. Das ist die Grundlage aller Bankrottprozeduren – die alten Kreditgeber, die den Fehler begehen, werden gebraten, die neuen kriegen die Bratensoße.

Aber warum wollen die Politiker diese Logik nicht akzeptieren? Der Grund dafür ist die Sorge des politischen Establishments um sein Prestige und darum, wie die Macht in Europa wohl wahrgenommen werden könnte, wenn man Griechenland für zahlungsunfähig erklärt.

Es geht ums politische Prestige

Natürlich sieht es auf kurze Sicht nicht gut aus, wenn ein Land im angeblich reichsten Teil der Welt zahlungsunfähig wird. Es sieht auch nicht gut aus, wenn ein pflichtvergessenes Land zu einem Teil der Welt gehört, der eine historische Bedeutung hat und mit den USA um die Stellung als beste der alten Supermächte wetteifert. Es geht also um politisches Prestige.

Selbst wenn das gewahrte Prestige die europäische Haushaltsbilanz verschlimmert – weil die finanzielle Unterstützung der Kreditgeber an bankrotte Banken oder sogar Staaten das ultimative “tote Geld” ist – scheint es, dass viele führende Politiker diese Lösung wollen. Die Märkte dagegen sorgen sich um zukünftige Renditen, nicht um vergangenes Prestige. Finanzmärkte haben kein Gedächtnis. Sie werden von der Chance von morgen angetrieben, nicht von der Schuldzuweisung von gestern.

Deshalb erhöht die Entscheidung eines Landes (wie Irland), alle seine Bankschulden zu zahlen, die Risikorate dieses Landes und vermindert sie nicht etwa. Was wir vom Verhalten der europäischen Finanzmärkte in den letzten beiden Tagen lernen müssen, ist recht einfach: Wenn Michael Noonan den Anleiheninhabern den nächsten Teilbetrag der [toxischen irischen] Anglo-Bank nicht bezahlt, dann zieht der Markt in Irland wieder an.

Wie die griechische Gans so der keltische Ganter

Denn jedes Mal, wenn wir den Anglo-Anleiheninhabern 700 Millionen Euro zahlen, ist das “totes Geld”. Diese Ausgaben werden die zukünftige Produktivität Irlands nicht verbessern – würde das Geld für Schulen ausgegeben, dann wäre es so. Sie werden sogar das Wachstum der Produktivität verlangsamen, weil sie von der nächsten Generation mit höheren Steuern bezahlt werden müssen. Um die Situation zu retten, brauchen wir einen massiven Wechsel auf höchster Ebene in Europa. Dazu muss man die Welt so sehen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie gerne hätten.

Neben dieser Generation von führenden Politikern in Europa wirken der deutsche Feldmarschall von Hindenburg und der britische Premierminister Chamberlain geradezu entscheidungsfreudig. Der Kontinent hat sich der Krise gegenüber verleugnend verhalten. Zuerst war es die hin- und hergerissene EU-Kommission, die behauptete, es werde schon alles wieder in Ordnung kommen, dann hatten wir Angela Merkel und ihre Erklärung, man werde Griechenland keinen Zahlungsausfall erlauben, und jetzt haben wir die – durch unkluge Äußerungen der Amerikaner am Montag bestätigten – Gerüchte, dass im Kern der Lösung zu Europas Schuldenproblem eine Art abgegrenzter Zahlungsausfall für Griechenland steht.

Erwarten wir also in den nächsten Tagen irgendeine Form von Zahlungsausfall für die Griechen. Dann bleiben die folgenden logischen Fragen offen: Wenn Griechenland säumig bleiben darf, warum dann nicht die irischen Banken? Das würde uns Dutzende von Milliarden Euro ersparen. Schließlich ist die EZB in Griechenland an der Angel, und sie ist auch hier in Irland an der Angel. Was für die griechische Gans recht ist, muss auch für den keltischen Ganter recht sein.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Aus Deutschland

Merkel zählt die Truppen vor dem Votum

“Union stuft Merkel herab”, titelt die Frankfurter Rundschau, die sich auf die morgige Bundestagsabstimmung zur Griechenlandrettung vorbereitet. Der deutsche Anteil am europäischen Rettungsfonds würde dann auf 211 Milliarden Euro steigen, von 440 insgesamt. Ein Probevotum fand am Dienstag statt. Ähnlich dem Reste der deutschen Presse legt die Tageszeitung dessen Ergebnisse in aller Subjektivität aus: Sie zählt 13 CDU/CSU-Abgeordnete, die der Kanzlerin die Gefolgschaft verweigern werden, und der Kanzlerin so mit der “größten Niederlage ihres Mandats” drohen; die konservative Welt zählt nur 11 Abgeordnete; die linksliberale Süddeutsche geht bis 18, titelt aber beschwichtigend “Merkel kann mit eigener Mehrheit rechnen.“ Die Kanzlerin verfügt im Bundestag über eine Mehrheit von 19 Stimmen.

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