Gehört er zur „schweigenden Mehrheit“? Am Sonntag wählen die Franzosen zwei Kandidaten in die Stichwahl um die Präsidentschaft.

Die Rache der Kleinen

Vor fünf Jahren war Nicolas Sarkozy der Kandidat des „Frankreich der Frühaufsteher“. Heute ist er der „Präsident der Reichen“. Die Wahl wird aber nicht in Paris, sondern in der Provinz entschieden, wo sich für Handwerker und Arbeiter nur wenig getan hat. Die Zeit hat sie besucht.

Veröffentlicht am 20 April 2012 um 14:26
Gehört er zur „schweigenden Mehrheit“? Am Sonntag wählen die Franzosen zwei Kandidaten in die Stichwahl um die Präsidentschaft.

Michel Sieurin beugt sich vor, legt den Hammer aus der Hand und senkt die Stimme: „Vor fünf Jahren habe ich Nicolas Sarkozy gewählt, heute ist mir das peinlich. Ich fand den Slogan gut: ,Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen’. Aber für die kleinen Leute hat er nichts getan, er ist der Präsident der Reichen.“

Seit 25 Jahren ist Sieurin der Schuster von Montivilliers, einer nordfranzösischen Kleinstadt in der Nähe von Le Havre. „Der Antisarkozysmus ist ein Phänomen der Pariser Elite“, hatte Carla Bruni-Sarkozy unlängst behauptet. So steht es auch in der regierungsfreundlichen Presse: Die Pariser Literaten und Journalisten und Intellektuellen seien gegen Sarkozy, aber die „schweigende Mehrheit“ da draußen, die denke anders.

Das erzählt auch der Betroffene selbst, der – Überraschung! – auf Reisen in die Provinz auf lauter Fans trifft. Aber vielleicht hätte Sarkozy mal mit jemandem wie dem Schuster von Montivilliers reden sollen.

Der 56-jährige Sieurin war als junger Mann Metallarbeiter, organisiert in der klassenkämpferischen Gewerkschaft CGT, „und 1981, als mit Mitterrand die Linke an die Macht kam, hatte ich Wunder erwartet“. Die Linke ging, der Kapitalismus blieb. Sieurin sah noch vieles vergehen. Seine Träume von einer solidarischen Gesellschaft. Seinen Job als Autoschlosser und mit ihm Tausende andere Industriearbeitsplätze in der Region.

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Paris ist Lichtjahre entfernt

Am 22. April stimmen die Franzosen darüber ab, wer Präsident werden soll, am 6. Mai ist Stichwahl. Michel Sieurin wird vielleicht leere Stimmzettel abgeben. Der Sozialist François Hollande ist für ihn „auch bloß ein Liberaler“ – das Wort bezeichnet in Frankreich den verhassten Wirtschaftsliberalismus. Der stramm linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon ist dem Schuster zu aggressiv, und die radikalen Nationalisten der Marine Le Pen kommen prinzipiell nicht infrage. „Für manche meiner Freunde schon“, sagt Sieurin. „Die sind wütend und wollen das zeigen. Faschisten sind sie nicht.“

Montivilliers ist ein kleines Städtchen wie viele andere. Nach Paris fährt man zweieinhalb Stunden, aber kulturell gesehen liegt die Hauptstadt Lichtjahre entfernt. Paris, das ist öffentliche Debatte allenthalben, ein nervöses Zentrum. Das Frankreich der Provinzen tickt anders. Hier bilden sich Meinungen im Stillen, im Kreis der Familie, Freunde, Vereine. Dieses Frankreich wird die Wahl entscheiden.

Die Geografie des Landes verändert sich. Geringverdiener und Langzeitarbeitslose ziehen in die Kleinstädte und aufs Land. In den Großstädten haben sie oft nur die Wahl zwischen teuren Wohngegenden und unsicheren Ghettos.

„Hier ist es ruhig“, lautet die erste Antwort, fragt man Einwohner von Montivilliers nach Pluspunkten ihres Wohnorts.

Altertümliche Häuschen umringen den Marktplatz, etliche mit Fachwerk, die meisten freilich heruntergekommen, und einen Markt hat die Stadt schon lange nicht mehr. Bestens in Schuss hingegen die fast tausendjährige Abtei, für sie bezahlt der Staat. Ihre Geschichte endete mit der Französischen Revolution, als die Nonnen nicht auf die Republik schwören wollten. Von 1793 an beherbergte das Gebäude sogar eine Brasserie. Eine Abtei-Brasserie gibt es immer noch, allerdings gegenüber gelegen.

„Das ist der Präsident der Reichen.“

Ein Arbeitertreffpunkt. Claude Far und Salim Khaoua haben sich eingefunden, 28 und 30 Jahre alt sind sie, algerischer und marokkanischer Herkunft, „unzertrennlich“ wie Brüder, wie sie sagen. Sie bewundern die Deutschen für ihre Kanzlerin und ihre Autos und meinen, mit Frankreich gehe es bergab.

Darin sind sie sich mit der überwiegenden Meinung einig; sie wird genährt von einer Flut aus Büchern und Artikeln, die den Abstieg in die Zweitklassigkeit beklagen, und mit ihm die Erosion des „französischen Sozialmodells“, das sich in einem Wort zusammenfassen lässt: Égalité, also Gleichheit. „Unsere Kumpels sind fast alle arbeitslos“, sagt Salim, „die können es sich nicht leisten, ins Restaurant zu gehen wie wir.“

Claude und Salim sind fast immer auf Achse, sie prüfen die Schweißnähte von Kernreaktoren, im ganzen Land. Mal gibt es Lohn, mal nur Überbrückungsgeld, je nachdem, ob der Körper die kritische Dosis Radioaktivität schon aufgenommen hat und sie eine Zwangspause einlegen müssen.

Die beiden gehören zu dem „Frankreich, das früh aufsteht“, dessen Tugenden Sarkozy gerne preist. „Leuten wie uns hat er versprochen, dass wir mehr verdienen werden – tja, war wohl nichts. “ Und wieder: „Das ist der Präsident der Reichen.“ Also Hollande? „Nein, der will Atomkraftwerke abschalten.“ Marine Le Pen? „Vielleicht. Frankreich muss sich gegen die Konkurrenz wehren. Aber die Forderung nach der Rückkehr zum Franc ist Quatsch.“

Aus Frankreich

Revolution liegt in der Luft

„Was die Kampagne aufdeckt: Hass auf die Reichen“, titelt Le Point und betont damit das Phänomen, das mehrere Präsidentschaftskandidaten, unter ihnen der linksradikale Jean-Luc Mélenchon, ausgelöst haben.

Die Wochenzeitung stellt fest, dass die Begütertsten zu den „Sündenböcken der Kandidaten“ geworden sind, in einer Kampagne, die sich „vor dem Hintergrund einer beispiellosen Krise und rekordhohen Schulden abspielt“. Abschaffung der Privilegien, als Echo auf 1789, oder „Jagd auf die Reichen“, wenn man schon „den Armen nicht mehr geben“ kann... die vorgebrachten Ideen zeigen folgendes:

Alle nehmen eine grundlegende Wandlung zur Kenntnis: Die Grenze der annehmbaren Einkommensungleichheiten, die in den 1990er und 2000er Jahren sehr hoch war, ist plötzlich gesunken.

Während der Wahlkampf in Frankreich dem Ende zugeht, stellt sich Le Point folgende Frage: „Wird die Wahl dieser sehr französischen Leidenschaft ein Ende setzen?“

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