Ein Spinoza für alle Gelegenheiten

Denkmäler, Internetseiten, Vorträge und Ausstellungen: Drei Jahrhunderte nach seinem Tod begeistert man sich in den Niederlanden wieder für den Philosophen. Ein jeder Denker interpretiert ihn auf seine Weise - mit mehr oder weniger Erfolg, bedauert der Volkskrant.

Veröffentlicht am 11 Juni 2009 um 14:02

Die beiden in Amsterdam stehenden Bauwerke zu Ehren von Baruch de Spinoza könnten nicht unterschiedlicher sein: Die von Nicolas Dings angefertigte massive Skulptur in der Nähe des Rathauses und die interaktive Holzkonstruktion von Thomas Hirshborn im Bijlmer [der multikulturellen Vorortzone Amsterdams]. Heutzutage liebt man Spinoza leidenschaftlich.

Seit dem 11. September 2001 verwickelt man Spinoza auch in Diskussionen um Immigration, multikulturelle Gesellschaften oder den Mord von Theo van Gogh. Im Zentrum kreisen zwei der wichtigsten Ideen seines Denkens: Toleranz und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Im Verlauf der Diskussionen behaupteten die einen, dass die viel zu große Toleranz gegenüber Muslimen die Meinungsfreiheit gefährde. Darauf meinte die Linke, die Neokonservativen missbrauchten die Meinungsfreiheit, um einen so grundlegenden Wert wie Toleranz zu unterhöhlen. Anstatt Spinozas Ideen aufzuwerten redeten sie jedoch aneinander vorbei.

Auf verblüffende Art und Weise taucht Spinoza (1632-1677) wieder auf. Im letzten Jahr erzählte der britische Denker George Steiner wie er in den Niederlanden vergebens ein zu Spinozas Ehren errichtetes Denkmal suchte. Niemand konnte ihm den Weg weisen und die völlige Gleichgültigkeit der Niederländer gegenüber ihrem größten Philosophen brachte ihn gänzlich aus der Fassung. Geschockt war auch der mazedonische Schriftsteller Goce Smilevski, als er Jugendliche während seiner Interviews über Spinoza ausfragte und diese antworteten: "Niemals von ihm gehört". Sein Ratschlag: investiert in Philosophieunterricht an niederländischen Schulen!

Diese Kritiken sind nicht mehr wirklich gerechtfertigt. Im November 2008 wurde die Spinoza-Statue von Dings eingeweiht, das Haus Spinozas wurde restauriert und überall im Land finden Tagungen statt. Auch organisiert die Stadt Amsterdam seit Anfang Mai ein Kunstfestival: [My name is Spinoza](http://www.spinozamanifestatie.nl/) (Siehe: spinozamanifestatie.nl).

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Jonathan Israel (Professor für Moderne Europäische Geschichte in Princeton) half dem Philosophen ein wenig nach. In seinen zwei ausgezeichneten Studien über die "Radikale Aufklärung" weist er auf den wichtigen Einfluss Spinozas als Vorreiter der radikalen Denker der Aufklärung hin. Eifrig argumentiert Israel, dass die Gedankenfreiheit den wichtigsten Platz in unserer Kultur einnimmt und auch unsere muslimischen Einwanderer davon überzeugt sein, und diese akzeptieren müssen, um die gegenwärtige Freiheit unserer Gesellschaft auch weiterhin zu erhalten.

Der nonkonformistische englische Denker John Gray hält Israels Interpretationen der gegenwärtigen Gesellschaft für völlig subjektiv und erklärt, dass er keineswegs das Recht habe, Spinoza mit hineinzuziehen. Gay kritisiert den "Fundamentalismus des Marktes" und die dogmatische Arroganz der Neokonservativen. Für ihn zeugt das politische Plädoyer Israels vom Schutz westlicher Werte, die als anderen Werten überlegen betrachtet werden.

Wie auch immer: Mit Spinoza kommt jeder auf seine Kosten. Hätte Spinoza das gefallen? Irgendwie ist es auch traurig, dass die Gedanken des Philosophen auf Biegen und Brechen zitiert werden. Vor allem geht es doch um einen Philosophen, der sich für Übungen des Gehirns einsetzt, die darin bestehen, seine Gedanken völlig frei herumirren zu lassen. Dogmen geziemen sich nicht für freie Denker.

Dagegen ist die künstlerische Ode, die das Festival My name is Spinoza demselben widmet, viel gelungener. Anschauen kann man sich das in der Amsterdamer Mediamatic Bank im Stil eines besetzten Hauses. Eingeladen ist hier jeder und man kann seine Meinungen frei äußern, indem man sie mit Kreide an eine der schwarzen Tafeln schreibt, die verschiedenen Fragen gewidmet sind, wie beispielsweise: "Welche Gedanken sind so gefährlich, dass man sie besser nicht veröffentlichen sollte?" Eine der Antworten: "Meine". Dieser spontane Ansatz, sich Spinoza zu nähern, gleicht einem frischen Wind inmitten bedrückender und auswegsloser Diskussionen um unsere "Identität" und unsere "nationalen Normen und Werte".

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