Analyse Voices of Europe 2024 | Finnland

Finnland erwartet einen Erdrutschsieg für die Wahlbeteiligung

Die finnische Wahlbeteiligung bei den bevorstehenden EU-Wahlen wird mit plus 10 % voraussichtlich ein Rekordhoch erreichen. Zu den Gründen dafür gehören Russlands Krieg in der Ukraine, Finnlands frisch begonnene NATO-Mitgliedschaft und der Klimawandel.

Veröffentlicht am 24 Mai 2024 um 13:14

Es wird erwartet, dass die Finnen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni eine Rekordzahl an Stimmen abgeben. Bei den letzten EU-Wahlen im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 40,80 %. Jetzt wird davon ausgegangen, dass sie um 10 Prozent zunehmen wird, was einen deutlichen Anstieg bedeutet. 

Das gestiegene Interesse an der EU-Wahl im Vergleich zu 2019 lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. Russlands Angriff auf die Ukraine hat die finnische Geopolitik grundlegend verändert. Für die Finnen ist ein Schlüsselfaktor für die hohe Beteiligung an der EU-Wahl die im Vergleich zu 2019 deutlich veränderte europäische Sicherheitslage. Der 2022 begonnene Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Bedeutung der EU als Garant für Sicherheit und Stabilität im demokratischen Westeuropa untermauert. 

Das Interesse der Finnen an der EU-Politik wurde auch durch Finnlands NATO-Beitritt im Frühjahr 2023 und dessen Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsstruktur und die Rolle der EU in der Verteidigungspolitik des Kontinents verstärkt. Dem übrigen Europa ist nun bewusst, dass Finnland eine mehr als 1 300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt. Damit befindet sich Finnland in einer deutlich heikleren geopolitischen Lage als Länder, die weiter von Russland entfernt sind.


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Bis zur russischen Invasion dachten die meisten Finnen, dass der beste Weg, mit Russland in Kontakt zu bleiben, darin bestünde, ein bündnisfreies Land zu bleiben. Russlands Angriff auf die Ukraine hat jedoch die Masken fallen lassen, wie der ehemalige finnische Präsident Sauli Niinistö (Mitte-Rechts-Koalitionspartei) es ausdrückte. Offensichtlich musste Finnland seine Vermittlerrolle Rolle gegenüber seinem unzuverlässigen Nachbarn gegen eine Mitgliedschaft in dem westlichen Militärbündnis eintauschen. Finnland hat genug Erfahrung, um zu wissen, dass Russland an nichts anderes als an Gewalt glaubt.

Wie sehr sich die Finnen dieser neuen Realität bewusst sind, zeigt sich darin, dass nur wenige Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 188 der insgesamt 200 finnischen Abgeordneten für den NATO-Beitritt stimmten.

Die NATO-Mitgliedschaft gibt den Finnen die Sicherheit, dass im Falle eines Angriffs auf Finnland andere NATO-Staaten dem Land zu Hilfe kommen. Dies ist eine bedeutende Veränderung gegenüber der früheren Neutralitätspolitik, durch die Finnland versucht hatte, direkte Militärbündnisse zu vermeiden.


Nur wenige Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 188 der insgesamt 200 finnischen Abgeordneten für den NATO-Beitritt stimmten


Anfang März löste Alexander Stubb (Koalitionspartei) Sauili Niinistö als Staatsoberhaupt ab. Ein klares Zeichen für die Verlagerung hin zu einer stärker westlich orientierten Außenpolitik, insbesondere in Bezug auf Russland und für eine stärkere Rolle Finnlands innerhalb der EU. Diese Veränderungen könnten sich auf die bevorstehenden EU-Wahlen auswirken.

Während Niinistö die traditionell vorsichtige Linie der finnischen Präsidenten gegenüber Russland vertrat, ist der rund zwanzig Jahre jüngere Stubb ein eindeutig westlich orientierter Politiker, der bereits als EU-Abgeordneter, Premierminister und Außenminister tätig war. Seine Wahl zum neuen Staatsoberhaupt hat die internationale Position Finnlands und die  Außenbeziehungen des Landes stark verändert, was die bevorstehenden EU-Wahlen beeinflussen könnte.

Obwohl die Macht in Finnland bei der Regierung liegt, an deren Spitze der Ministerpräsident steht, spielt der Präsident als Repräsentant nach Außen nach wie vor eine wichtige Rolle in der finnischen Außenpolitik. Das Thema Sicherheit war bei der letzten Eurobarometer-Umfrage eindeutig das wichtigste Motiv für die Finnen, an den EU-Wahlen teilzunehmen. Doch es haben noch andere Faktoren das Interesse der Finnen an der EU verstärkt.

Krisen stärken die EU-Unterstützung in Finnland

Bei den EU-Wahlen 2019 spielte der Klimawandel in der finnischen EU-Wahlkampagne eine wichtige Rolle, was die weltweite Besorgnis über die Umweltkrise widerspiegelt. Grüne Themen waren wichtig und viele Parteien machten den Umweltschutz zu einem zentralen Bestandteil ihrer Wahlprogramme.

Mit Blick auf die Wahlen 2024 sind viele neue Aspekte aufgetaucht, auch wenn einige der Themen von 2019 weiterhin relevant sind. Klimawandel und Umweltfragen bleiben zentral. Ihre Behandlung hat sich jedoch von Einzelmaßnahmen zu umfassenderen Strategien verlagert, die einen grünen Übergang in allen Wirtschaftssektoren beinhalten.

Der Klimawandel ist eines der kritischsten globalen Themen, dessen Bedeutung erst in den letzten Jahren erkannt wurde. Die EU hat sich ehrgeizige Ziele zur Bekämpfung des Klimawandels gesetzt. Die im Allgemeinen sehr umweltbewussten Finnen sehen die EU-Wahlen als eine Möglichkeit, die Richtung der Umweltpolitik zu beeinflussen.

Viele interessierten sich besonders für die Frage, wie die EU den Umgang ihres Landes mit ihren Wäldern regeln möchte.

Das Interesse an der EU hat auch deshalb zugenommen, weil die COVID-19-Pandemie den Finnen gezeigt hat, dass die EU-Länder ihren Bürgern besser dienen können, wenn sie zusammenarbeiten. Die Rolle der EU bei der Bewältigung der Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung war bedeutend, was zu einer größeren Wertschätzung der EU in der finnischen Bevölkerung geführt hat und zu der erwarteten Rekord-Wahlbeteiligung beitragen könnte.

Ein weiteres zentrales Thema im finnischen EU-Wahlkampf war die Nachhaltigkeit der Wirtschaft, insbesondere die Entwicklung der digitalen Wirtschaft, die begonnen hat, Arbeitsmärkte und Wirtschaftsstrukturen in ganz Europa zu verändern. Finnland, einst Heimat des weltgrößten Mobiltelefonherstellers Nokia, weiß um die Bedeutung der Technologie als Motor der Gesellschaft.

Finnland hat in den letzten Jahren auch in die Sensibilisierung und Aufklärung über die EU in Schulen und in der öffentlichen Debatte investiert. Dies hat zu einem besseren Verständnis der Bedeutung der EU und ihrer Auswirkungen auf Finnland beigetragen, was die Motivation zur Stimmabgabe insbesondere bei jungen Menschen erhöht hat.

Einwanderung bleibt ein wichtiges Thema

Die Einwanderungs- und Asylpolitik war 2019 ein wichtiges Thema und wurde im nationalen und europäischen Kontext breit diskutiert. Wie viele andere EU-Länder kämpft auch Finnland damit, ein Gleichgewicht zu finden aus humanitärer Verantwortung und nationaler Sicherheit. 

Im Vorfeld der EU-Wahlen 2024 ist jedoch eine neue Diskussion über die EU-Erweiterung und den Schutz der Außengrenzen aufgekommen.

 Die russische Grenze, über die der Kreml seit Ende letzten Jahres gezielt Asylbewerber schickt, hat den Finnen Sorgen bereitet. Das Thema hat nicht nur die Herausforderungen bei der Verwaltung der Außengrenzen aufgezeigt, sondern auch Fragen über die Rolle der EU im Umgang mit diesen Problemen aufgeworfen. Im vergangenen Winter musste Finnland seine Grenzen vorübergehend schließen, um eine noch stärkere Einwanderung zu verhindern, was sich möglicherweise auf die bevorstehenden EU-Wahlen auswirken könnte. 

Das Problem ist, dass Finnland sich an internationale Abkommen halten sollte, die das Recht auf internationalen Schutz garantieren. Die Reform der Asylpolitik und die verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern sind Themen, die einen neuen Ansatz erfordern.

Finnland bleibt ein Technologieland

In wirtschaftlicher Hinsicht sind Europa und Finnland mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören die Erholung von der Pandemie und die Auswirkungen des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine. 

Diese Probleme haben deutlich gemacht, dass die Unabhängigkeit Europas in Bezug auf Energieversorgung und Produktionsketten gestärkt werden muss, was sich auch in den Wahlkampfthemen widerspiegelt.

Mit dem Näherrücken der EU-Wahlen 2024 ist die Rolle der Technologie insbesondere in den Bereichen künstliche Intelligenz und digitale Dienstleistungen im finnischen Diskurs stärker in den Vordergrund gerückt. Dieser Wandel unterstreicht das Potenzial der Technologie, unsere Zukunft zu gestalten, und weckt bei den Bürgern ein Gefühl von Optimismus und Hoffnung. 

Datenschutz, Cybersicherheit und ethische Fragen in Bezug auf den Umgang mit Technologie sind Schlüsselthemen. Denn, wie andere EU-Länder muss auch Finnland darüber nachdenken, wie man die Macht der Technologie optimal nutzen und gleichzeitig die Rechte der Bürger besser schützen kann.

Dieser Artikel ist Teil des Gemeinschaftsprojekts Voices of Europe 2024, an dem 27 Medien aus der ganzen EU beteiligt sind und das von Voxeurop koordiniert wird.

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