Gegen alle Regeln

Wer Fehler macht, soll auch die Folgen spüren. - Dieses Kerngesetz der Marktwirtschaft wird seit den 5 Jahren Krise mit Füßen getreten. Die Politik muss entscheiden zwischen Wohlstand und Moral, schreibt die Zeit.

Veröffentlicht am 6 Januar 2012 um 15:25

Wer die Mühe auf sich nimmt, in diesen Tagen Internetforen zur Wirtschaftskrise zu durchforsten, wird eine interessante Entdeckung machen: Für den größten Unmut sorgen nicht die schier unglaublichen Beträge, die in den Markt gepumpt oder in diversen Rettungsfonds bereitgestellt werden – für Empörung sorgt vor allem, wer sie erhält: die Banker, die lange abgesahnt haben und jetzt in die Pleite rutschen. Die Staaten, die über ihre Verhältnisse gelebt haben und jetzt nicht mehr an frisches Geld kommen. Die Hausbesitzer, die zu viele Kredite aufgenommen haben und jetzt ihre Schulden nicht mehr bedienen können.

Fehlverhalten wird belohnt statt sanktioniert – das ist seit fünf Jahren die Grunderfahrung der westlichen Gesellschaften. Die um sich greifende Rettungsmüdigkeit erschließt sich nur, wenn nicht nur die monetäre, sondern auch diese moralische Dimension der Krise in den Blick genommen wird.

Man kann sich ihr mit einem Konzept aus der Psychologie nähern: dem Phänomen der kognitiven Dissonanz. Es bezeichnet den Widerspruch zwischen der Vorstellung, die wir uns von der Welt machen, und dem tatsächlichen Lauf der Dinge. So wie in der Fabel von dem hungrigen Fuchs und den Reben, die an einer Mauer emporwachsen. Der Fuchs springt immer wieder hoch und schnappt nach den Trauben, bekommt sie aber nicht zu fassen, und dieses Scheitern passt nicht zum Selbstbild des Tieres, das gewohnt ist, zu bekommen, was es will. Nicht viel anders als dem Fuchs ergeht es den Menschen in den Industrienationen.

Kern aller westlich-individualistischen Gerechtigkeitsvorstellungen ist das tief im abendländischen Denken verankerte Prinzip der Eigenverantwortung: Jeder ist für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich. Die Zusammengehörigkeit von Risiko und Haftung ist das Fundament des Kapitalismus. Erst dadurch wird der Markt in die Lage versetzt, individuelles Gewinnstreben in Gemeinwohl zu transformieren. “Investitionen werden umso sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet. Nur bei fehlender Haftung kommt es zu Exzessen und Zügellosigkeit”, schrieb der Freiburger Ökonom Walter Eucken, einer der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und noch heute würden das die meisten Volkswirte so formulieren.Lesen Sie den ganzen Artikel auf der Website der Zeit...

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Standpunkt

Billigere Kredite für Staaten!

“Warum müssen Staaten 600-mal mehr zahlen als Banken?” Diese Frage stellten der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard und der Wirtschaftswissenschaftler Pierre Larrouturou in Le Monde und lösten damit viele Reaktionen im Internet aus.

Die beiden Autoren erinnern daran, dass die Bush-Regierung im Jahr 2008 ganze 700 Milliarden Dollar (540 Mrd. Euro) zur Rettung der US-Banken locker machte:

Die US-Notenbank lieh den lädierten Banken insgeheim einen Betrag von 1200 Milliarden zum unglaublich niedrigen Zinssatz von 0,01 Prozent. Gleichzeitig litten die Bevölkerungen zahlreicher Länder unter aufgezwungenen Sparhaushalten von Regierungen, denen die Finanzmärkte noch nicht einmal wenige Milliarden zu Zinssätzen unter sechs, sieben oder neun Prozent leihen wollen!

Rocard und Larrouturou zitieren Präsident Roosevelt – “Vom organisierten Geld regiert zu werden ist genauso gefährlich wie vom organisierten Mob regiert zu werden” – und schlagen eine Umschuldung der “‘alten Schulden’ unserer Staaten zu an Null grenzenden Zinssätzen” vor.

Zur Umsetzung dieser Idee müssen die europäischen Verträge nicht geändert werden: Gewiss, die Europäische Zentralbank (EZB) ist nicht befugt, den Mitgliedsstaaten Kredite zu geben, doch sie kann unbeschränkt Anleihen an öffentliche Kreditanstalten (Paragraph 21.3 der Satzung des europäischen Zentralbankensystems) und an internationale Organisationen (Paragraph 23 derselben Satzung) vergeben. Sie kann also der Europäischen Investitionsbank (EIB) oder der [französischen] Depositenkasse Kredite zu 0,01 Prozent geben und diese können dann wiederum den Staaten, die sich für die Rückzahlung ihrer Altbelastungen verschulden, Anleihen zu 0,02 Prozent geben.

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