Hochgeschwindigkeitszüge: Fortschritte im Schneckentempo

Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Litauen, Lettland und Estland könnte die osteuropäische Wirtschaft beleben, die Beziehungen der Region zur EU stärken und die Abhängigkeit von Russland verringern. Allerdings existiert die geplante Eisenbahnverbindung Rail Baltica bisher nur auf dem Papier.

Veröffentlicht am 21 Oktober 2013 um 11:24

Die 600 Kilometer lange Menschenkette, die sich im August 1989 von Vilnius über Riga bis hin nach Tallinn erstreckte, ist zum Symbol des Freiheitskampfes der baltischen Staaten gegen die Unterdrückung durch die Sowjetunion geworden. Über zwanzig Jahre nachdem sie ihre Unabhängigkeit wiedererlangt haben, gibt es zwischen den drei Hauptstädten allerdings weder direkte Personenzugdienste, noch Verbindungen zum Rest der Europäischen Union. Im Bereich der Infrastrukturen sind die Länder des Baltikums nach wie vor „unterjochte Nationen”: Die Eisenbahnstrecken verlaufen Richtung Osten, nach Moskau und Sankt Petersburg. Die Stromnetze sind mit jenen Russlands synchronisiert. Und bezüglich der Gasversorgung sind [die baltischen Staaten] weitestgehend von der Russischen Föderation abhängig.

Ein Schritt in Richtung Europa

Insofern war es ein symbolträchtiger Moment, als die Europäische Kommission [vergangene] Woche erstmals seit den 1990er Jahren wieder einen wirklichen Personenzug zwischen den baltischen Staaten zirkulieren ließ. Der mit Eurokraten und Leuten aus dem Transportgewerbe beladene [Zug] rollte zwei Tage lang durch Birken- und Kieferwälder und begrüßte [die Passanten] bei jedem Halt mit Musik und Ansprachen. Das ganze sollte ein Vorgeschmack auf das Vorzeigeprojekt der EU sein, das den Namen Rail Baltica trägt: Eine moderne Schnellbahnstrecke, mithilfe der die Fahrzeit auf rund vier Stunden reduziert werden könnte.

Von der Umstellung auf die in Westeuropa übliche Spurweite von 1.435 mm, erhofft man sich mehr Sicherheit. In erster Linie aber verabschiedet man sich damit von der in Russland gültigen Spurweite von 1.524 mm. [Symbolisch betrachtet] kehrt man der Russischen Föderation damit den Rücken und macht einen Schritt auf „Europa” zu. Der EU-Verkehrskommissar Siim Kallas, der selbst aus Estland stammt, träumt von schnellen Zugverbindungen zwischen Tallinn und Berlin. Durch diese Art von Projekten kann die EU Mehrwert schaffen, ärmere Länder in das industrielle Herz Europas integrieren und die fehlenden Verbindungen herstellen, die von den Landesregierungen entweder nicht finanziert werden können, oder diese gar nicht an ihnen interessiert sind. Mit neun gesamteuropäischen Verkehrskorridoren will Kallas ein integriertes Schienen-, Wasser- und Hafen-Netz schaffen, das grösser sein soll als die Summe seiner Einzelteile. Die Rail Baltica wäre ein Abschnitt des Korridors, der sich von Finnland bis zu den niederländischen und belgischen Häfen erstrecken würde.

„Chronische Zwietracht”

Obwohl die Rail Baltica seit 1994 auf dem Papier existiert, ist ihre Zukunft noch immer unklar. Große Infrastrukturprojekte entwickeln sich häufig schleichend. Im Kontext der Wirtschaftskrise ist Geld zur Mangelware geworden. Ganz besonders in den Staaten des Baltikums. Zudem verfügt die Europäische Kommission erst ab 2014 über mehr Geld, um das Projekt zu fördern. Bis dahin wird das EU-Verkehrsbudget nämlich verdreifacht. Der Hauptgrund für die Verzögerungen aber ist die chronische Zwietracht der drei baltischen Länder. Seit der Unabhängigkeit hat die Einigkeit der Menschenkette häufig den jeweiligen Rivalitäten Platz gemacht. Das ist auch jenseits der Eisenbahnen zu spüren: So ist [beispielsweise] der geplante Bau eines Gemeinschaftskernkraftwerks in Litauen zum Stillstand gekommen. Zudem wird der Vorschlag zur Schaffung eines integrierten regionalen Gasnetzes zur Verringerung der [Energie-]Abhängigkeit von Russland wohl zu den Akten gelegt werden müssen, weil die drei Länder separate Erdgasverflüssigungsanlagen entwickeln. Hinzukommt, dass das gemeinsame Baltische Bataillon aufgelöst wurde, und die drei Staaten des Baltikums sich darum streiten, wo die NATO-Mission zur Luftraumüberwachung und zum Luftraumschutz der baltischen Staaten (Baltic Air Policing) ihren Hauptsitz haben soll. Und im Fall Rail Baltica zanken sie sich sogar um den Namen: So nennt Estland das Projekt [zum Beispiel] Rail Baltic. Demnach nannte die Kommission ihren Vorführzug taktvoll „RB Express”.

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[[Finnland und Estland, die am weitesten vom europäischen Herzen entfernt sind, sind am stärksten an dem Projekt interessiert]]. Lettland hatte eine Zeitlang Bedenken angemeldet. Vor allem weil frühere Projektvorschläge Riga scheinbar zu umgehen versuchten und Verbindungen zwischen Flug- und Seehäfen vermissen ließen. Und nachdem diese Probleme gelöst wurden, wird nun Litauen – das momentan die halbjährlich wechselnde EU-Ratspräsidentschaft innehat – der Vorwurf gemacht, sich alle Zeit der Welt zu nehmen. Beamten zufolge hat [Litauen] dem gemeinsamen Eisenbahn-Projekt mit Lettland und Estland nur widerwillig zugestimmt und dabei ins Feld geführt, dass die Kontrolle seiner Eisenbahnen durch eine ausländische Gesellschaft verfassungswidrig sei. Auch was den Umfang angeht, ist man sich noch immer uneinig. Litauen betont unterdessen, dass es keinerlei Bedenken quälen und bereits mit der Modernisierung der Verbindungen nach Polen begonnen wurde, um zu gewährleisten, dass europäisch genormte Züge darauf fahren können. Kritiker meinen dagegen, dass es sich dabei nur um doppelspurige Gleise auf den bereits vorhandenen Niedriggeschwindigkeitsstrecken handelt, und [das Projekt] Rail Baltica seine eigenen Bahngleise braucht, um die Geschwindigkeit erhöhen zu können.

Ein „geschenkter Gaul”

[[Das Seltsamste ist, dass Rail Baltica so etwas wie ein geschenkter Gaul ist. Die EU hat sich verpflichtet, bis zu 85 Prozent der veranschlagten Kosten zu übernehmen, die sich auf geschätzte 3,7 Milliarden Euro belaufen]]. Und für den Rest wird [die Union] zweifelsohne zinsgünstige Kredite zur Verfügung stellen. Eine alte sowjetische Weisheit besagt: [[„Wo der gesunde Menschenverstand aufhört, fängt die Eisenbahnlinie an”]], erzählt ein verzweifelnder Eurokrat. Vielen anderen zufolge ist das grundlegende Problem aber, dass einige der Bahnbetreiber, die in der Region so etwas wie eine Monopolstellung haben, eng mit ihren [Partnerinstanzen] in Russland zusammenarbeiten, und Profit aus dem Gütertransitverkehr zwischen den Ostseehäfen und Russland, Zentralasien und China schlagen. Wieder andere behaupten, dass es wesentlich schlauer wäre, die Ost-West-Strecke zu modernisieren und eine neue Autobahn zu bauen, anstatt sich auf ein kostspieliges und ungewisses Nord-Süd-Schienenbauprojekt einzulassen.

Den Ländern des Baltikums fehlen ganz einfach die notwendigen Bevölkerungszahlen, die solch fortschrittliche Hochgeschwindigkeitsstrecken und Züge rechtfertigen würden, die mit Geschwindigkeiten von über 300 Kilometer pro Stunde fahren. Stattdessen würden [die Züge des Projekts] Rail Baltica maximal 240 Kilometer pro Stunde fahren und sich das ganze Vorhaben nur lohnen, wenn langsamer fahrende Güterzüge die Verbindungen nutzen. Die jüngsten Durchführbarkeitsstudien haben gezeigt, dass das Projekt zwar „ganz allgemein realisierbar”, es aber alles andere als klar sei, ob daraus wirtschaftliche Vorteile gezogen werden können.

„Eine Frage der Gerechtigkeit”

Der Meinung der Projektbefürworter zufolge würde die neue Strecke selbst für mehr Verkehr und neue Passagiere sorgen. Die Schifffahrt in der Ostsee wird ab 2015 aufgrund neuer Schwefel-Emissionsvorschriften teurer werden. Die europäische verarbeitende Industrie wandert in Richtung Osten ab. China könnte mehr Güter über den transkontinentalen Schienenverkehr nach Europa transportieren. [Und] das Abschmelzen der Polarkappen könnte den Seeweg im Nordpolarmeer öffnen, (wodurch in Asien produzierte Waren im Norden Finnlands entladen und über Züge, Fähren und die Rail Baltica in den Süden transportiert werden könnten).

In einer wachstumsstarken Region kann selbst das grenzwertigste Infrastrukturvorhaben mithilfe des Wachstums- und Wettbewerbsargument gerechtfertigt werden. Ganz so als würde es sich um eine Frage der Gerechtigkeit handeln, [wird dabei das Argument vorgebracht], die ärmeren Länder an der Peripherie Europas müssten stärker in den Binnenmarkt integriert werden. Und außerdem gibt es da auch noch das Problem der Sicherheit. Um seine Nachbarn, und allen voran die Ukraine, davon abzuhalten, neue Handels- oder Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, führt Russland einen Handelskrieg. Eines der Opfer ist Litauen: Seine Milchprodukte dürfen [seit Anfang Oktober] nicht mehr nach Russland eingeführt werden, weil die gesundheitspolitischen [Kontrollen] angeblich unzureichend sind. Niemand kann hier die Augen vor der geopolitischen Dimension [dieser Entscheidung] verschließen. Für die Rail Baltica ist der knurrende russische Bär wohl das schlagendste Argument überhaupt.

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