„Child’s pose“ von Călin Peter Netzer gewann bei der Berlinale 2013 den Goldenen Bären

Im Kino lohnt sich Selbstkasteiung

Nach dem Festival von Cannes, hat nun auch die Berlinale einen Film der rumänischen „Nouvelle Vague“ ausgezeichnet. „Child's pose – Die Stellung des Kindes“ von Călin Peter Netzer handelt vom Leid und der Verzweiflung, Rumäne zu sein, erklärt ein Soziologe.

Veröffentlicht am 19 Februar 2013 um 16:21
„Child’s pose“ von Călin Peter Netzer gewann bei der Berlinale 2013 den Goldenen Bären

Ich kenne Călin Netzer und ich habe seine anderen Filme gesehen. „Child's pose — Die Stellung des Kindes“ kenne ich nicht, mir sind aber die Filme von Cristi Puiu, Cristian Mungiu, Corneliu Porumboiu, Cristian Nemescu oder Tudor Giurgiu bekannt.

Ich lebe in einer Welt, wo die Realität die Logik der Zivilisation oftmals blockiert. Die Gesellschaft, das Gefängnis, das Krankenhaus, die Schule oder andere Institutionen sind die Vorlagen für die gegenwärtige Filmwelle in unserem Land, die viele Meisterwerke hervorgebracht hat. Ich glaube daran, dass das Schicksal, das uns aus dem Kommunismus herausgeführt hat, uns in Zukunft auch einen Literaturnobelpreis in Rumänien bescheren wird.

Herta Müller hat ihn zwar erhalten, aber ihre Bezugspunkte sind eher die Erinnerungen an den Kommunismus. Ich warte – und bin sicher, dass er kommen wird – auf einen Nobelpreis über die Übergangszeit, über das, was wir bereits durch die Filme der rumänischen „Nouvelle Vague“ schon im Kino zu sehen bekommen haben.

Diese Filme würden wir gar nicht richtig wahrnehmen, würden sie nicht mit internationalen Preise ausgezeichnet, denn bei uns ist die Mehrheit der Menschen der Ansicht, diese Filme würden das Land oder unser Volk diffamieren.

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Tschechow'schen Tradition der Verzweiflung

Die jungen Leute kämpfen um Förderung durch eine Organisation (CNC – centrul national al cinematografiei – Nationales Filmzentrum), die nur wenig Geld zu vergeben hat. Dabei müssten wir diese jungen Menschen unterstützen, denn sie verwerten auf dem Markt die einzige Sache, die bei uns noch authentisch geblieben ist: das Leid und die Verzweiflung Rumäne zu sein.

Es ist die Verzweiflung, sich gegen die Geschichte zu stellen und neben der Zivilisation zu laufen. In der heutigen Welt verkauft sich dieses Gefühl sehr gut, und wir könnten weiter in diese Selbstkasteiung investieren. So wie es auch in dem berühmt gewordenen Filmzitat aus Filantropica des Regisseurs Nae Caranfil heisst, wenn wir doch die Hand bei der EU und dem IWF oder der Weltbank aufhalten müssen, dann sollten wir zumindest eine Geschichte dazu erzählen.

Das wäre doch eine erhabenere Art zu betteln. Wir verkaufen euch Verzweiflungspillen und ihr, ihr Westler, gebt uns ein bisschen Geld dafür und freut euch, dass ihr diesem Drama entkommen seid, weil eure Länder bei der (Konferenz von) Jalta geschützt wurden.

Child's pose habe ich noch nicht gesehen, aber nach dem Film Herr Lazărescus Tod war ich sprachlos und zwar nicht, weil die Idee so besonders unkonventionell gewesen wäre, sondern weil ich wusste, dass sie auf einer wahren Geschichte beruhte und Netzers Film kommt ebenfalls aus der Tschechow'schen Tradition der Verzweiflung darüber, in einer Welt zu leben, wo der freie Wille und die Freiheit keinen Sinn mehr haben.
Ich habe die Filme Filantropica und California Dreamin’ gesehen und ich war überwältigt von der rumänischen Listigkeit, die hier zu einer Lebensphilosophie wird.

Gefangene eines Übergangsschicksals

Immer wenn ein Film eines Filmemachers dieser neuen Generation erscheint, überkommt mich eine verrückte Lust, Anton Tschechow wieder zu lesen, denn ich werde von der Gewissheit übermannt, dass das Absurde im Osten zum Ethos gehört und nicht eine Verneinung des rationalen Denkens darstellt.

Die Charaktere in unseren Filmen könnten von Tschechow stammen. Die Hauptdarsteller im Rumänien des Übergangs sind gefangen in dunklen Welten, von wo sie versuchen auszubrechen, aber dies gelingt nur in der Illusion oder im Tod. Eigentlich scheinen die Hauptdarsteller von Giurgiu, Porumboiu, Netzer oder Mungiu Gefangene eines Übergangsschicksals zu sein, wo das Warten dem Todeskampf gleichkommt.

Abgeschlossene Welten und spärliches Licht sind die dominierenden Motive einer filmischen Welle, die sich unsere heutige Welt zum Gegenstand gemacht hat. Nur sehr selten sieht man dabei ein Stückchen vom Himmel...

Ganz gleich ob es in diesen Filmen um Abtreibung, Glaube, Drogen oder die Umorientierung einer Gemeinschaft hin zum Kapitalismus geht, die Filme der „Nouvelle Vague“ stellen Individualismus oder extremen Egoismus, Verrat, aber vor allem die Einsamkeit als Verfallsprozess und den Tod des sozialen Wesens in den Mittelpunkt. In diesen Geschichten über unsere heutige Zeit sind die Hauptdarsteller meistens Frauen, tragische Figuren, denen es niemals gelingt, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal oder das ihrer Familien zu gewinnen und wo die Männer diesen Kampf schon längst aufgegeben haben.

Die ersten freien Menschen unserer Welt

Diese Filme haben alle ein offenes Ende, als ob jeder von ihnen das weiterführen würde, was der Regisseur von California dreamin' offengelassen hat: eine rumänische Wirklichkeit am Abgrund, deren Lauf niemand aufzuhalten vermag.

Was unterscheidet aber diese jungen Filmemacher, die nach 1989 versucht haben, das europäische Kino getreu dem Motto „die Zeiten mögen sich ändern... aber wir bleiben die Gleichen“ zu umgarnen? Diese Kinder haben die ersten Schritte in der Zeit des Übergangs gemacht, sie konnten noch die klaffenden Wundes des Kommunismus sehen, mussten aber mit den großen Kompromissen dieser Zeit nicht selbst leben. Sie erleben eine entmenschlichte Welt, wo der Egoismus zum Wert und Moral der Transition erhoben wird. Diese Kinder bedienen sich nicht ihrer Einbildungskraft, um zu verfälschen, sondern sie erzählen Geschichten.

Sie sind als Schlüsselkinder aufgewachsen (in einer Zeit, wo niemand Zeit hatte, ihnen Geschichten zu erzählen). Was diese „enfants terribles“ der Filmkameras aber am meisten von anderen unterscheidet ist die Tatsache, dass sie keinen Hass verspüren: Sie erzählen mit einer gewissen Distanz, sie zeichnen die Schicksale in einer sich auflösenden Welt nach. Sie bieten keine Lösungen an, sind selbst aber die ersten freien Menschen unserer Welt.

Leider haben sie in einem Rumänien, das sein eigenes Spiegelbild nicht sehen kann, noch nicht genügend Zuschauer, denn diese sind wie auch Millionen Landsleute in den Westen ausgewandert, der die Filmemacher jetzt zwar mit Preisen auszeichnet, der aber am zweiten Tag schon dem Drama eines osteuropäischen Landes, das es nicht schafft, sich aus dem Tschechow'schen Todeskampf zu befreien, den wir Transition nennen mit Gleichgültigkeit begegnet.

Auszeichnungen
 


Keine Pinke – viele Preise


Der Goldene Bär für Child’s Pose, eine erdrückende Liebesgeschichte zwischen Mutter und Sohn, aber auch ein schonungsloses Spiegelbild der Korruption in Rumänien, ist der Beweis, dass das rumänische Kino in den vergangenen Jahren „eines der besten ist“, schreibt România liberă. Ein Paradox, meint das Blatt, denn es handele sich um ein Land —

wo es in den meisten Städten nicht einmal ein Kino und wo es kaum Filmförderung gibt, und wenn, dann wird deren Aufteilung regelmäßig zum Skandal.

Die Tageszeitung zieht dann eine Parallele zwischen dem Erfolg bei internationalen Filmfestspielen und dem Erfolg der rumänischen Turnerinnen bei den Olympischen Spielen:  

Der Film von Călin Netzer wurde während der Berlinale von unseren bei Olympia medaillierten Spitzensportlern unterstützt. Das war keine Frage des Marketings, sondern der offensichtlichen Parallele. Sportler wie Künstler haben für unser Land Preise gewonnen, trotz der widrigen Bedingungen. Wir brachten Schwimm- oder Wasserballmeister hervor, obwohl es keine Schwimmbäder gab. Wir bekamen trotz Mini-Budgets die Goldene Palme [2007, für 4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage von Cristian Mungiu] und den Goldenen Bären. Der Staat hat nichts zur Kultur oder zum Sport beigetragen, um diesen Erfolg zu erklären. Für Wunder ist der liebe Gott zuständig. Und glücklicherweise liebt Gott das Kino!

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