Analyse Exilanten stecken vor den Toren Europas fest | EU Migrationspakt

Ist das Asylrecht in Europa nur noch eine vage Erinnerung?

Die Verschärfung der Bedingungen für Asylgewährung – eine Tendenz, die sich anlässlich der jüngsten Krise zwischen Polen und Belarus bestätigte – und die zahlreichen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Migrationspakt führen zu einer immer restriktiveren Politik; diese entfernt sich zunehmend von den Prinzipien, die die EU eigentlich verteidigen sollte.

Veröffentlicht am 4 Januar 2022 um 13:15

Im Juni 2015 wurde in Brüssel die Ausstellung „Moving beyond borders“ eröffnet. Sie entstand auf Initiative des Netzwerks Migreurop und der Künstlergruppe Etrange miroir und bringt den Besucher*innen die Hölle eines „irregulären“ Migrationswegs nahe. Hierzu stellt sie die Hindernisse vor, die die Regierungen und die Institutionen der Europäischen Union den Migrant*innen bei jeder einzelnen Etappe in den Weg legen. Das schlimmste Zukunftsszenario ging von einer Union aus, die ihre Außengrenzen nicht mehr zu kontrollieren braucht, weil es ihr gelungen ist, ganze Regionen im Süden der Welt abzuschotten, die so für deren Bürger*innen zur Falle werden.

Die Ereignisse der letzten sechs Jahre bestätigen, dass die europäische Migrations- und Asylpolitik dies tatsächlich anstrebt. Trotz aller Bemühungen um Externalisierung bleibt man jedoch weit von dem Ziel entfernt – daher kommt die Gewalt der verfolgten Politik weiterhin vor allem an den Außengrenzen zum Ausdruck, wo sich auch die Entschlossenheit der Personen im Exil und die Solidarität derjenigen, die sie unterstützen, zeigen. Die drei Reportagen dieser Serie, die entlang der grünen Linie in Zypern, an der Grenze zwischen Belarus und Polen sowie in Sarajewo angefertigt wurden, machen das sehr deutlich.


Exilanten sitzen vor den Toren Europas fest

1. In Zypern versperrt eine grüne Linie Menschen, die Asyl beantragen wollen, den Weg
2. Die Flüchtlinkskrise in Polen und Belarus: Migranten helfen und dem Regime trotzen
3. Sackgasse Sarajevo
4. Ist das Asylrecht in Europa nur noch eine vage Erinnerung?

Am 1. Dezember 2021 schlug die Kommissarin für Inneres Ylva Johansson außerordentliche Maßnahmen zur Unterstützung Polens, Litauens und Lettlands vor, die es ermöglichen, vom Asylrecht abzuweichen, und erklärte: „Es ist jetzt äußerst wichtig, dass wir Fortschritte beim Migrations- und Asylpaket erzielen.“ Dieses Vorschlagspaket von September 2020 sollte die Diskussionen über die Reform des gemeinsamen europäischen Asylrechts neu beleben, die durch die geteilte Meinung der Mitgliedstaaten, besonders zur Frage der Verteilung der Asylsuchenden, blockiert waren. Sollten diese Vorschläge in ihrer aktuellen Fassung angenommen und umgesetzt werden, würden sich bereits bekannte Entwicklungen wie die Ausweitung von beschleunigten Asylverfahren an den Grenzen, zunehmender Druck auf die Länder an vorderster Front, Abbau der Rechte von Asylsuchenden und Kriminalisierung der Solidarität beschleunigen.


Es war eine schwere Verzerrung, Migrations- und Asylfragen den Bereichen Justiz und Innere Angelegenheiten zuzuordnen.

Yasha Maccanico, Statewatch

Es überrascht nicht wirklich, dass bei dem Pakt seit seiner Einführung keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen sind. Die EU-Ratspräsidentschaften, die sich mit ihm befassten – Deutschland, Portugal und Slowenien – mussten einsehen, dass es unmöglich ist, bei allen Punkten gleichzeitig voranzukommen. Sie beschlossen daher, den Pakt zu untergliedern, um sich auf bestimmte Vorschläge zu konzentrieren. Trotz dieses neuen Ansatzes wurde nach mehr als zwei Jahren immer noch kein Vorschlag angenommen. Verabschiedet wurde nur die Verordnung über die Gründung der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA), die das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) ersetzen soll.

Dieser Vorschlag wurde im Jahr 2016 von der Kommission vorgelegt und im Zusammenhang mit dem Pakt wieder aufgenommen. Angesichts der Rolle, die das EASO bei der Umsetzung des katastrophalen Ansatzes der Erstaufnahmelager (sog. Hotspots) in Griechenland und Italien spielte, darf man sich zu Recht fragen, ob die neue Agentur mit erweitertem Mandat wirklich die Interessen der Asylsuchenden vertreten wird. Die Entscheidung des Rates der EU, den Beginn der Aufsichtsfunktionen der EUAA in Bezug auf die Anwendung des Asylrechts aufzuschieben, lässt das Gegenteil vermuten.

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Der Pakt konnte noch einen Schritt weiter gehen: Die Berichterstatter*innen des Europäischen Parlaments legten kürzlich zwei Vorschläge für Verordnungen über die Asylverfahren und über die Verwaltung von Asyl und Migration vor. Catherine Woollard, Generalsekretärin des Europäischen Flüchtlingsrates (ECRE), kommentierte beide Texte mit deutlichen Worten: Der erste Verordnungsvorschlag „lässt den komplexen, nicht umsetzbaren Vorschlag der Kommission unverändert“. Beim zweiten „ist es dem Berichterstatter gelungen, einen schlechten Vorschlag noch schlechter zu machen, denn durch die vorgeschlagenen Änderungen würden die Schutzstandards reduziert und die Verantwortung der Länder an den Außengrenzen erhöht“.

Yasha Maccanico, Forscher bei der NGO Statewatch, analysiert seit mehr als 20 Jahren die europäische Migrations- und Asylpolitik. Für ihn stellt der Pakt eine neue Etappe der Entwicklung dar, die 1999 beim Tampere-Gipfel began: „Es war eine schwere Verzerrung, Migrations- und Asylfragen den Bereichen Justiz und Innere Angelegenheiten zuzuordnen. In der nächsten Phase hat sich diese Verbindung durch die Dringlichkeit der Terrorismusbekämpfung noch verstärkt. Mit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags im Jahr 2009 verbesserte sich die Situation dann leicht. Die Kommission schien sich noch als für die Grundrechte-Charta verantwortlich zu erklären, machte aber bei vielen Punkten Zugeständnisse“. Zwischen 2014 und 2015 kehrte sich die Tendenz erneut um: Dem EU-Kommissar für Inneres Dimitris Avramopoulos wurde auch die Zuständigkeit für Migration übertragen, der umstrittene Fabrice Leggeri wurde zum Direktor der Agentur Frontex ernannt und man rief die Europäische Migrationsagenda, die dem Pakt vorausging, ins Leben.

Die schwerwiegendsten Aspekte dieser Entwicklung sind für Maccanico „die Neudefinition der Solidarität“, die jetzt darin besteht, dass die Mitgliedstaaten bei der „Misshandlung von Migrant*innen zusammenhalten“; die „Stärkung der Idee, dass jeder, der sich ohne Genehmigung der Staaten fortbewegt, selbst für alles verantwortlich ist, was ihm passieren kann“ ; die zunehmende Verschiebung der ausgelagerten Aktivitäten auf diplomatische und militärische Kanäle, „so dass mehr Informationen geheim gehalten werden können“.

 „Die Europäische Union stellte einen äußerst anspruchsvollen Versuch dar, eine neue Staatsform zu schaffen“, betont Maccanico. „Man hat allerdings beschlossen, diesen Versuch und die Achtung der Menschenrechte im Namen der Migrationspolitik zu opfern, die letztendlich mehr mit der Bekräftigung eines neuen Autoritarismus zu tun hat als mit der Migration selbst“.

 Dabei, merkt er an, können sich nicht alle mit diesem Europa identifizieren, das sich durch „auffälligen Militarismus“ auszeichnet und in dem Mauern wachsen, die dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel zufolge schon bald aus europäischen Mitteln finanziert werden könnten (was nur eine unbedeutende Änderung wäre, da die Kommission seit jeher akzeptiert, „alles zu finanzieren, was die Grenzen stärkt“, wie das Transnational Institute in Erinnerung ruft). „Obwohl die NGO, die Seenotrettung betreiben, bereits seit fünf Jahren attackiert werden, entstehen immer noch neue“, merkt Maccanico an. „Jeder, dem diese Realität bewusst wird, kann sie nicht mehr ignorieren. Es gibt eine andere europäische Identität, die der zuvor beschriebenen trotzt“.

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