Im Jahr 2017 erreichte ein Lkw mit 12,5 Millionen Zigaretten im Anhänger sein Ziel: die ukrainische Hafenstadt Odessa. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein gewöhnlicher Tabak-Transport von Europa in die Ukraine, eines der Länder mit dem größten Raucheranteil der Welt. Aber: Die gelieferten Zigarettenpackungen der Marke Regina Blue und Regina Red hatten keine Steuermarken. Die Warnetiketten waren nicht auf Ukrainisch, und auf einer Seite stand in kleinen Buchstaben: „For Duty Free Sale Only”
Kurz: Die Polizei vermutete, die Zigaretten sollten durch die Ukraine geschmuggelt werden.
Obwohl Reginas mit ihrem von einer goldenen oder silbernen Krone verzierten großen weißen R als Logo lange nicht so bekannt sind wie beispielsweise Marlboro oder Lucky Strike, gehören sie seit einigen Jahren zu den meist geschmuggelten Tabakprodukten in Europa.
Die Marke wird von der China National Tobacco Corporation (auch: China Tobacco oder CNTC), einem chinesischen Staatskonzern, produziert. Jahrelang hatte sich die Firma auf den nationalen Markt konzentriert, aber seit einiger Zeit vertreibt Peking die Zigaretten vermehrt auch international – teilweise illegal, wie das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) und die Kyiv Post gemeinsam herausfinden konnten.
In den letzten sieben Jahren hat Chinas einzige Tabakfabrik in Europa (ein paar Stunden nördlich der rumänischen Hauptstadt gelegen) die Ukraine mit mindestens einer halben Milliarde Zigaretten geflutet. Nach Angaben der ukrainischen Finanzbehörde und einem Verband der größten Tabakproduzenten in der Region wird keine der beiden chinesischen Marken dort legal verkauft. Wie das OCCRP in Erfahrung bringen konnte, verkündete die Fabrik, die Zigaretten legal an 14 verschiedene ukrainische Unternehmen zu verkaufen. Journalisten haben jedoch herausgefunden, dass gegen mindestens drei dieser Unternehmen Untersuchungen wegen Zigarettenschmuggels laufen.

Die ukrainische Polizei identifizierte sie als Teil eines Tabakschmugglerrings, der große Mengen Zigaretten aus Rumänien, Belarus und den Vereinigten Arabischen Emiraten in die Ukraine importiert hat – und von dort oft weiter in die EU. China hat das WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs unterzeichnet, das Regelungen zum Umgang mit Zigarettenschmuggel und -fälschung beinhaltet. Kern des Übereinkommens ist, dass Tabakunternehmen vor dem Export die Gesetzmäßigkeit ihrer Kundschaft und der Nachfrage auf dem Zielmarkt überprüfen müssen. Dazu gehört, die Lizenzen der Abnehmer zu prüfen.
Es sieht aus, als sei China Tobacco diesen Auflagen nicht nachgekommen.
CNTC hat nicht auf journalistische Kontaktanfragen reagiert. Die rumänische Tochterfirma China Tobacco International Europe Company allerdings erklärte, man befinde sich im Rahmen aller relevanten rumänischen Gesetze und EU-Regelungen und „arbeite kontinuierlich daran, die Maßnahmen zur Risikokontrolle zu verbessern”, wozu seit 2019 die Implementierung eines „Tracking-Systems” gehöre, um den Schmuggel einzudämmen. Das Unternehmen antwortete jedoch nicht auf Fragen zu den Anschuldigungen und zum Kundenstamm in der Ukraine.
Die ukrainischen Behörden schlossen die 2017 begonnenen Untersuchungen zum Zigarettenschmuggel Ende Dezember 2020, weil die staatliche Steuerbehörde und die Staatsanwaltschaft keine Verdächtigen gefunden hatten. Am 29. April wurde der Fall wieder aufgenommen – eine Woche nachdem Journalisten genauer bei der Staatsanwaltschaft nachgehakt hatten. In über vier Jahren intensiver Polizeiarbeit haben die Beamten keinen Zusammenhang gefunden. Sie haben auch nie eine Kooperation mit der rumänischen Polizei aufgenommen, die den Zigarettenschmuggel im Fall China Tobacco auf der anderen Seite der Grenze ebenso untersucht hat.

Ein Beispiel für die ineffiziente Arbeit: Nach dem Fund der illegalen Reginas im Mai 2017 gab eine Person aus der Führungsetage des Käufers – Duty Free Odessa – an, nie zuvor chinesische Zigaretten importiert zu haben. Das war eine Falschaussage. Rumänische Exportdaten zeigen, dass Duty Free Odessa nur einen Monat zuvor 12,5 Millionen Regina-Zigaretten in die Ukraine importiert hatte, und zwar mit einem offenbar von den Behörden nicht registrierten Transport. Eine andere Firma (Travel Retail Ukraine) desselben Besitzers hatte im Juli 2015 zudem fast 15,5 Millionen chinesische Zigaretten importiert.
Dass so wichtige Dinge übersehen werden, kam den OCCRP-Journalisten zufolge im Zusammenhang mit China Tobacco öfter vor. Behörden nennen Zigaretten aus China oft auch „cheap whites” (billige Weiße) – ein Begriff für illegale exportierte Zigaretten aus kleineren Produktionsstätten. Dabei fällt unter den Tisch, dass diese vom größten Tabakhersteller der Welt produziert werden, der noch dazu gerade expandiert. „Die Ukraine hat lange zu den Ländern gehört, die besonders stark in den Zigarettenschmuggel in die EU verwickelt sind”, so Dr. Allen Gallagher von der Tobacco Control Research Group an der University of Bath.
Bis an die Spitze
Wadym Sliusariew ist einer der Besitzer von Duty Free Odessa und Travel Retail Ukraine. Er ist ein einflussreicher Grenzbeamter mit engen Verbindungen zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij. Er ist bekannt für seine wenig ehrenhaften Aktivitäten und seit 2015 ukrainischer Staatsbürger. Außerdem war er kurzzeitig als Bürgermeister von Odessa tätig.
Im April beschuldigte ihn der ehemalige Präsident Georgiens, Michail Saakaschwili, öffentlich als „größten Schmuggler Charkiws”. Die Region Charkiw ist bekannt für ihre viel befahrenen Schmuggelrouten. „Warum steht er nicht auf der Liste?”, fragte Saakaschwili bei einem Fernsehauftritt in der Ukraine. Damit verwies er auf die Ankündigung von Sanktionen gegen angeklagte Schmuggler. Vielleicht, fuhr er fort, habe Sliusariew „eine Art Immunität auf Grundlage politischer Sympathien.”

Dieser hat eine enge Verbindung zu Selenskij, für den er seit 2015 arbeitet. Zuvor war er jahrelang in verschiedenen Grenzschutzbehörden der Region Charkiw und später als Chef der Grenzschutzbehörde für nationale Sicherheit tätig. Von den Ermittlern in der Schmuggleraffäre erfuhr ein Journalist, dass keine Beweise für Sliusariews persönliche Involvierung in den Fall vorlagen – obwohl seine Firmen eindeutig Teil davon waren. Der Unternehmer stieg erst 2017/2018 bei Duty Free Odessa und Travel Retail Ukraine ein, die zu diesem Zeitpunkt bereits in den Schmuggel verwickelt waren. Der Erfolg der Firmen begann schon während Sliusariews Zeit beim Grenzschutz. Die andere Besitzerin, Ksenia Yablukowska, hatte ihre Anteile bereits 2015/2016 erworben.
Sliusariews Unternehmen haben wie CNTC nicht auf journalistische Nachfragen reagiert. Versuche, ihn über die Partei Diener des Volkes zu kontaktieren, waren ebenfalls erfolglos.
Im Jahr 2012 hat Travel Retail Ukraine einen Duty-Free-Shop am Hoptiwka-Grenzpunkt nahe Russland eröffnet. Der Grenzpunkt ist einer der über 40 Grenzübergänge zu Russland, für deren Verwaltung Sliusariew zu dieser Zeit als Chef der Grenzschutzbehörde für nationale Sicherheit zuständig war. Als er 2017 Anteile von Travel Retail Ukraine kaufte, erwarb er nebenbei ein Unternehmen namens Frontera, das ein Gebäude direkt neben dem Hoptiwka-Grenzpunkt besitzt. Dieses vermietete er an den Grenzschutz, wie das RFE/RL-Programm Schemes herausgefunden hat. Die Reporter berichten, dass Frontera außerdem Land im Umkreis des Hoptiwka-Grenzpunktes besitzt. Dort befinden sich mittlerweile Geschäfte und Versicherungsfilialen.
Das OCCRP und die Kyiv Post können zwar keine Beweise für die Involvierung dieser Geschäfte in den Schmuggel vorlegen, aber die 2017 in Odessa konfiszierten Zigaretten waren mit dem Label „For Duty Free Sale Only” gekennzeichnet. Eine 2020 von der Analyse- und Beratungsfirma KANTAR veröffentlichte Studie legt offen, dass mit diesem Kniff regelmäßig geschmuggelte Zigaretten in die Ukraine geschleust werden.
Einer der für die Untersuchung des Transports nach Odessa zuständigen Kriminalbeamten befand es gegenüber der Kyiv Post und OCCRP für eindeutig, dass die Zigaretten nie für den Verkauf in einem Duty-Free-Shop gedacht waren. Der Beamte hat keine Erlaubnis zum Kontakt mit der Presse, weswegen sein Name anonym bleibt. „Duty-Free-Shops verkaufen solche Zigaretten nicht”, erklärte er. Wer hier einkaufe, wolle höhere Qualität.
Konstyantyn Krasowsky, Chef der Abteilung für Tabakregulierung am Institut für strategische Untersuchungen des ukrainischen Gesundheitsministeriums, sagt: Die behördliche Überwachung von Duty-Free-Shops in der Ukraine sei „sehr, sehr schwach”. Deswegen seien sie die idealen Verbindungspunkte für den Schmuggel illegaler Zigaretten. „In den Geschäftsbüchern werden diese Zigaretten als verkauft gelistet – es wird einen Bericht dazu geben”, erklärt er das Schema. „Aber in Wirklichkeit ist der Verkauf dieser Zigaretten, weil sie so viel billiger sind, für Schmuggler in bar sehr viel rentabler. Dann werden sie ins Ausland gebracht, nach Polen, Ungarn, Rumänien und so weiter.”
Oder sie bleiben in der Ukraine und kommen auf den Schwarzmarkt.
Journalisten haben mehrere Packungen Regina-Zigaretten online und in Tabakläden in der ganzen Ukraine gefunden – mit dem Label „For Duty Free Sale Only”. Offenbar wurden alle von einem Mann importiert, der im Mai 2017 mit Duty Free Odessa zusammengearbeitet hat: dem georgischen Geschäftsmann Turki Khalaf. Dessen Firma Global Tobac Co. organisierte 2017 den Regina-Transport nach Odessa. Ein Mann namens Maksym Khalaf, der dieselbe Adresse nutzte wie Turki, besitzt eine weitere Tabakfirma: Empire Tobacco.
Dieses Unternehmen hat 2019 und 2020 bei der rumänischen CNTC-Tochter über 66 Tonnen Tabak eingekauft. Einige der von den Journalisten gefundenen illegalen Zigaretten waren mit dem Empire-Tobacco-Logo bedruckt und hatten die Aufschrift „Produziert von Global Tobac Co., Ltd, Hong Kong”. Khalaf hat nicht auf journalistische Kontaktanfragen reagiert.
Das Batumi-Manöver
Es ist nicht bekannt, was Duty Free Odessa mit den 2017 nach Odessa geschmuggelten Reginas vor hatte. Alles deutet darauf hin, dass Zollbeamte dem Unternehmen einen Hinweis auf die Razzia gesteckt haben. Als die Zuständigen von der ukrainischen Steuerbehörde am Tag nach der Razzia mit einem Durchsuchungsbeschluss an der Grenze ankamen, hatte die Firmenchefin Yulia Tymoschenko sich bereits aus der Affäre gezogen – gerade noch rechtzeitig. In einer formellen E-Mail hatte sie verkündet, die Tabakladung nicht anzunehmen und die Zigaretten stattdessen an eine kanadische Firma zurücksenden zu wollen. Diese solle die Schmuggelware dann nach Batumi (Georgien) am Schwarzen Meer bringen. Das geht aus den Gerichtsdokumenten hervor.
Damit begann eine aussichtslose Suche. Die kanadische Firma verneinte, je von der Zigarettenladung gewusst zu haben. Das Fehlen eines Empfängers bedeutete, dass niemand für die Schmuggelware zur Verantwortung gezogen werden konnte.
Zudem wurden die Untersuchungsbeauftragten von der Steuerbehörde vom staatlichen Sicherheitsdienst abgefangen – der genau zu dem Zeitpunkt ankam, als man gerade den Lkw durchsuchen wollte und fragte, was das werden solle. Dies erzählt der anonyme Polizeibeamte. Dann weigerte sich Odessa Customs, wichtige Dokumente für die Untersuchung offenzulegen, weswegen die Polizei einen richterlichen Beschluss einholen musste. (Der Richter stimmte der Offenlegung zu und gab die Anweisung, die Dokumente auszuhändigen.) Der staatliche Sicherheitsdienst seinerseits leugnete alle Anschuldigungen. Als die Polizei endlich an die Dokumente kam, stellte sie fest, dass Tymoschenkos Unterschrift in der formellen E-Mail gefälscht war.
Unternehmen in besetzten Gebieten
Zwischen 2014 und 2020 wurden hunderte Millionen Zigaretten der Marken Regina, D&B und Dubao aus China Tobaccos europäischer Fabrik an zwei ukrainische Unternehmen geliefert, die keine Lizenz für den Tabakimport oder -vertrieb hatten. Beide wurden im Rahmen des Falls um Duty Free Odessa untersucht – die Polizei vermutete, sie wurden als „Käufer oder Mittelsmann genutzt”, um chinesische Zigaretten in andere Länder zu bringen. Die Nachverfolgung dieser Zigaretten nach dem Import in die Ukraine ist so gut wie unmöglich, weil sie nicht auf legalem Wege verkauft wurden. Aber in Italien wurden ab 2016 vermehrt Zigaretten von China Tobacco beschlagnahmt – viele davon kamen aus der Ukraine.
Insgesamt haben die italienischen Behörden 2017 bis 2019 rund 41 metrische Tonnen geschmuggelter Reginas, D&Bs und Dubaos beschlagnahmt. Davon konnten 17 Prozent in die Ukraine zurückverfolgt werden, so die italienische Steuerfahndung gegenüber OCCRP.

Schon vor Beginn der Unruhen mit Russland im Jahr 2014 war die Ukraine eine Brutstätte für Zigarettenschmuggel, aber die Situation hat sich seither stark zugespitzt – insbesondere in den besetzten Regionen, wo beide verdächtigen Kunden von China Tobacco ihren Hauptsitz haben. Der größte Abnehmer ist ein Unternehmen mit Sitz auf der Krim namens Rivera Grand Ltd. Die Firma hat unzählige chinesische Zigaretten importiert, den Großteil davon in den Monaten direkt nach der Annexion der Krim – allein 2014 waren es 200 Millionen Stück. Einige hatten das Label „For Duty Free Sale Only”. Der andere Käufer ist Doninvest-99 und sitzt in Donezk, der größten Stadt in der autonomen Region Donbass.
2015 wurde in der Ukraine ein Gesetz verabschiedet, nach dem Unternehmen mit Sitz auf der Krim und im Donbass sich in von Kiew kontrollierten Gebieten anmelden müssen, um legal handeln und Steuern zahlen zu können. Weder Rivera Grand noch Doninvest-99 sind dem nachgekommen. Keine der beiden Firmen hat auf Kontaktanfragen reagiert.
Firmen, die in den besetzten Regionen im Donbass gemeldet sind, werden von der ukrainischen Zentralbank als besonders risikobehaftet für Geldwäsche eingestuft. Gegen die Krim hingegen liegen US- und EU-Sanktionen vor, die den Verkauf strategischer Materialien wie Chemikalien und Eisen an dort gemeldete Unternehmen verbieten. Praktischerweise stehen Zigaretten nicht auf der Liste der verbotenen Güter.