Opinion Krieg in der Ukraine

Deshalb zeigt die Invasion der Ukraine die Machtlosigkeit und die Angst des Kremls

Der in der Ukraine geborene Schriftsteller Vasile Ernu reagiert auf einen kürzlich erschienenen Text des marxistischen Philosophen und Politikwissenschaftlers Slavoj Žižek und vertritt die Ansicht, dass Russlands Mangel an „sanfter Macht” und die Angst vor dem Verlust seines Einflusses der Schlüssel zur aggressiven Haltung des Landes sind, die letztendlich zu seiner Niederlage führen wird.

Veröffentlicht am 28 Juni 2022 um 20:29

Slavoj Žižek, einer der führenden Denker des Westens mit Wurzeln im „kommunistischen Osten”, schrieb kürzlich in The Guardian:

„Ja, der liberale Westen ist scheinheilig; er wendet seine hohen Standards sehr selektiv an. Scheinheiligket bedeutet jedoch, gegen die selbst verkündeten Standards zu verstoßen, und dadurch wird man zum Gegenstand der innewohnenden Kritik: Wenn wir den liberalen Westen kritisieren, handeln wir nach seinen Standards. Russland bietet dagegen eine Welt ohne Scheinheiligkeit – weil es nicht über globale ethische Standards verfügt, sondern nur pragmatischen „Respekt” für Unterschiede praktiziert. Was das bedeutet, haben wir deutlich gesehen, als die Taliban nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan sofort eine Vereinbarung mit China trafen. China akzeptiert das neue Afghanistan, während die Taliban ignorieren werden, was China den Uiguren antut – zusammenfassend ist das die neue Globalisierung, die Russland befürwortet. Und die einzige Möglichkeit, das zu verteidigen, was an unserer liberalen Tradition erhaltenswert ist, besteht darin, rücksichtslos auf deren Universalität zu bestehen. In dem Moment, in dem wir mit zweierlei Maß messen, sind wir nicht weniger „pragmatisch” als Russland”.

Die Russen fürchten, die Ukraine endgültig zu verlieren

Eine der Hauptursachen für den Krieg – das sagen die Russen ohne Umschweife – ist die Angst, die Ukraine endgültig zu verlieren. Das bedeutet, dass die Ukraine in eine Phase eingetreten ist, in der sie für immer verloren gehen wird – und zwar nicht unbedingt als administratives Element des Territoriums, sondern in einem viel tieferen Sinne.

Was wir meinen, ist, dass die Ukraine in einem fast metaphysischen Sinne von Russland abgetrennt wird – konkret bedeutet das eine totale Entfremdung und radikal unterschiedliche Werte. Ein Teil des kulturellen Raums wird zu einem fremden und sogar feindlichen Raum. Dasselbe gilt für Belarus. Russland fürchtet, dass es in einem Raum, den es als einen Teil seiner selbst betrachtet, seinen Einfluss und seine Anziehungskraft verliert. Und vor einem derartigen Identitätsverlust hat das Land abgrundtiefe Angst.

Diese Furcht vor einem totalen Verlust der Ukraine, davor, dass sie außerhalb der Reichweite der „russischen Welt” gerät, ist für Russland eine unerträgliche Vorstellung. Die Ukraine ist symptomatisch für Russlands Angst vor Selbstzerstörung. Wie real diese Angst ist, kann ich nicht sagen. Aber es gibt für sie eine wichtige Ursache – sogar mehr als eine.

Derartige Diskussionen habe ich mehr als 15 Jahre lang unzählige Male mit russischen, belarussischen und ukrainischen Freunden geführt.

Es ist mehr als 10 Jahre her, dass ich in Kiew und Minsk bei einem Kaffee mit Freunden meiner Generation gesprochen habe. Was mir dabei auffiel, war, dass sich die Jugend und die urbanen Hipster nur für Warschau, Berlin, London, Budapest, die Central European University und die USA interessierten.

Die Entfernung zu Moskau und Sankt Petersburg, das sozusagen um die Ecke liegt und die ehemalige Hauptstadt des Zarenreichs ist, war in ihrer Vorstellung größer als zu New York. Diese Distanzierung erfolgte innerhalb von nur 20 Jahren. Die Kinder und Enkel der Eltern und Großeltern, die in den Hauptstädten des Imperiums ausgebildet wurden, wollten mit den beiden neuen Zentren nichts zu tun haben.

Die Spaltung beginnt zur Zeit der Perestroika

Ich möchte wiederholen, dass diese Entwicklung innerhalb von höchstens 30 Jahren erfolgte, während des Putin-Regimes, auch wenn sie bereits unter Jelzin begann. Der Bruch ereignete sich radikal, mit meiner Generation, zur Zeit der Perestroika, als wir uns zu „den letzten Amerikanern” erklärten – wir waren amerikanischer als die Amerikaner. Das ist eine lange Geschichte. Ich erkläre dieses Phänomen in meinem Buch The Last Dingo Children.


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Für mich ist das ganz klar: rebiata, meine Lieben, eure Strategie ist völlig falsch. Das vorstehend Erörterte bedeutet, dass ihr Russen, der russische Staat, die beiden Hauptstädte, die großen urbanen Zentren, den Bürgern nichts zu bieten haben: „Mit Gewalt erzwungene Liebe ist Vergewaltigung”, sagt ein russisches Sprichwort. Wo ist eure sanfte Macht? Vâ je Imperia, sila, wie Pelewin in seinem Roman Generation P sagt – seid ihr nicht das Imperium, eine zerstörerische Kraft?

Was meine ich, wenn ich frage: Wo ist eure sanfte Macht? Ich spreche von der Wirtschaft, den enormen Investitionen in Bildung, attraktive Universitäten, Technologie, Massenkultur, Kulturzentren, urbane Zentren. Was ist daraus geworden? Es ist zerstört.

Was machen eure Eliten? Sie plündern das Imperium, investieren das Geld in Villen und Jachten, kaufen Anwesen in Monaco und London. Das Ergebnis ist ein Land, in dem so große Ungleichheit herrscht wie vielleicht sonst nirgends in der Welt und dessen Wirtschaft auf Rohstoffen und Plünderung basiert. Nicht einmal Wodka ist mehr russisch. Und man steckt Geld in Panzer. Ihr könnt viel von eurem siamesischen Zwilling – den USA – lernen. Mit Pelewin habt ihr einen Schriftsteller, der dies alles gut erklärt. Lest erst einmal Generation P.


Dass Putins Regime in Russland für niemanden ein Vorbild ist


Na ja. Solange ihr nichts zu bieten habt und die Menschen auf sich selbst gestellt sind, basiert alles auf Plünderung, Ölhandel, Horten und Panzern – man erntet, was man sät. Jetzt haben wir das Ergebnis: eine Katastrophe. Alle wenden sich ab, weil ihr nichts zu bieten habt. Nicht einmal die jungen Russen möchten im Land bleiben. Ihr wollt mit Panzern Unterwerfung erzwingen? Das führt zum Ende – zum Zerfall.

Der Rückgriff auf Gewalt, Zeichen für einen schwachen Staat

An diesem Punkt kann ich sagen, dass Russland kein Imperium ist, sondern ein Staat mit „Überbleibseln” eines Imperiums: Es handelt sich um einen reaktiven und revanchistischen Staat. Wo ist Russland in den letzten 20 Jahren gewesen? Wo war das Putin-Regime? Es hatte 20 Jahre Zeit. Warum hat es nicht versucht, seine Interessen mit sanfter Macht, durch Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Kultur zu verteidigen? War die Elite damit beschäftigt, ihr Land und ihr Volk auszuplündern? Was wir jetzt ernten, ist aggressiver Revanchismus – ein Zeichen völliger Ohnmacht.

Das beweist, dass Putins Regime in Russland für niemanden ein Vorbild ist. Die Tatsache, dass es so gewaltsam auf militärische Mittel zurückgreift, zeigt uns, dass es sich bei Russland um einen schwachen Staat handelt, nicht um einen starken. Krieg ist für die Region, für die Welt und auf mittlere und lange Sicht vor allem für Russland die schlechteste strategische Option.

Mit Panzern kann man keine Identitäten aufbauen. Und ein schwaches Russland ist ein noch gefährlicheres Russland als ein vernünftiges, verantwortungsvolles und starkes Russland. Gott bewahre uns vor russischer Anarchie.

Ich wiederhole: Dieser Krieg ist ein Zeichen der totalen Ohnmacht, eine Reaktion nach russischer Art – alles oder nichts – auf die Gefahr hin, das eigene Land aufzulösen. Ein selbstmörderischer Akt des Zurücksetzens, dessen Erfolgsaussichten gegen Null tendieren: Man kann nicht allein gegen die Welt bestehen, wenn man nur mit Panzern verhandelt. Wenn man sich nur auf Panzer verlässt, ist das Ende nah.

Es ist wie beim Schach: man spielt nicht nur den Läufer, man spielt mehrere Figuren, alle Figuren.

London, Hauptstadt des oligarchischen Russlands

Auf der anderen Seite haben wir London. Das soll nur ein Beispiel sein: London war einst die Stadt der aufstrebenden russischen Elite. „Londograd” war die Hauptstadt des oligarchischen Russlands. Ich erinnere mich noch gut an die 1990er Jahre, als Kriminalität als Lebensform legitimiert wurde. Westliche Experten versicherten uns, das sei in Ordnung. Wenn schon eine Therapie, dann eine Schocktherapie. Es ging zu, wie bei Banditen und Gaunern – Banditen hatten den Staat ersetzt. Ich werde nie vergessen und nie verzeihen, dass damals das Verbrechen von internationalen Gremien als Lebensform legitimiert wurde. Eines Tages werden sich die Unterdrückten rächen.

Aber zurück zum Thema. Ich erinnere mich gut an das Verhalten der ersten Oligarchen. In London fand der emblematische Prozess zwischen Beresowski und Abramowitsch statt. Es war völlig verrückt: Zwei russische Oligarchen kommen in das Herz des Finanzimperiums der Welt – der guten globalen Elite – um sich von ihr verurteilen zu lassen. Das alles wirkte wie ein schlechter Mafia-Film.

Jeder warf dem anderen vor, er würde ihm riesige Summen schulden; es ging nicht um Millionen, sondern um Milliarden von Dollar. Der Fall ist in der Geschichte einzigartig. Die Anklageschriften offenbaren, wie die Protagonisten ihr kolossales Vermögen erwirtschaftet haben, nämlich allein durch Diebstahl und Raub des Reichtums eines riesigen Staates. Wie die letzten Sträflinge der sowjetischen Schule reden sie von Drohungen, Kehlen durchschneiden, Todesdrohungen an die Familie und allem, was zur Welt der Kriminalität gehört. Eine echte Diebesbande, live in London.

Eines war klar: Hier standen zwei Kriminelle, die ein Imperium geplündert haben, in der Hauptstadt eines anderen Imperiums vor Gericht und baten dieses, ihr gestohlenes Vermögen zu legitimieren. Von Rechts wegen hätten sie verhaftet, ihr Vermögen eingezogen und dem Staat zurückgegeben werden müssen. Angesichts dessen, was Menschen wie Beresowski, Abramowitsch und Chodorkowski auf dem Gewissen haben, hätte für sie eine Inhaftierung als einzige Lösung in Frage kommen dürfen. Einige wurden jedoch von Putin legitimiert, andere von London und verschiedenen westlichen Instanzen. Für Putin gilt übrigens dasselbe. Mehr als 20 Jahre lang saß er mit der guten Welt an einem Tisch, und alle haben davon profitiert.

Ein doppeltes Maß an Zynismus

Was geschah wirklich im Fall der beiden Oligarchen? Es wurde Frieden geschlossen. Beide bekamen die britische Staatsbürgerschaft, investierten das gesamte Geld, das sie Russland gestohlen hatten, in London, und aus den damals größten Banditen der Welt, wahrhaftigen Kriminellen, wurden respektable, zivilisierte Gentlemen der alten Hauptstadt des britischen Imperiums.

Einer kaufte sich sogar einen Fußballverein – für einen nach seinen Maßstäben lächerlich geringen Betrag. Im britischen Imperium kennt der Zynismus keine Grenzen; das hat selbst die russischen Kriminellen tief beeindruckt: Sie zogen alle nach „Londograd”, wie die britische Hauptstadt von den russischen Mafiosi umgetauft wurde. Aus Respekt vor der britischen Edelkriminalität begann Rasputin, Englisch zu sprechen, und seine Kinder studierten alle in Oxford und Cambridge. Sie würden respektable Nachkommen der britischen Krone werden: So stärkte sich der Adel des Imperiums, der der Krone ergeben war: mit Diebstahl und Blut.

Und was geschieht heute in London? Das Vermögen der Oligarchen wird beschlagnahmt. Ein doppeltes Maß an Zynismus: Allein der Zynismus des britischen Imperiums ist in der Lage, den Zynismus der Verbrecher des russischen Imperiums in den Schatten zu stellen. Das hätte er schon in den 1990er Jahren tun sollen. Aber man beschloss, lieber zu schweigen. Was bedeuten „Rechtsstaatlichkeit” und „Ausnahmezustand” heute? Seid ruhig, hier kommt die Polizei des Wahrheitsministeriums.

Liebe kann nicht mit Panzern erzwungen werden

Wir leben in dieser falschen Welt voller Scheinheiligkeit und Verlogenheit, die von Grund auf verkehrt konstruiert ist. Es ist unvermeidlich, dass das irgendwann zum Krieg führt. Und ich fürchte, das ist erst der Anfang.

Doch nichts kann einen Besatzungskrieg legitimieren – absolut nichts. Deshalb wird das Putin-Regime diesen Krieg früher oder später verlieren – weil wir alle Scheinheiligkeit den Vorzug vor Gewalt geben. Scheinheiligkeit kann korrigiert, kritisiert, verändert werden. Wir alle ziehen sanfte Macht der mit Panzern erzwungenen Liebe vor, die Unschuldigen den Tod bringt.

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