Nationales Puzzle

Veröffentlicht am 13 November 2009 um 16:33

Die Rolle einer Vogelscheuche besteht darin, die gefiederten Feinde des bereits bestellten Feldes fernzuhalten. Das ist natürlich nicht die Rolle der nationalen Identität, doch das Thema scheucht die Gemüter trotzdem auf. Gegenstands- und visionslos kam die Debatte nun in Frankreich auf, während sie andernorts in Europa bereits erschöpft ist. Ihre nationale Identität definieren zu wollen, diese Aufgabe erlegen sich die EU-Kandidaten unter den Staaten implizit selbst auf, wie eine zusätzliche gemeinschaftliche, ungeschriebene Errungenschaft, die integriert werden soll. Sind sie der EU dann beigetreten, erfahren diese Länder, dass die europäische Identität noch gar nicht existiert, und dass der Weg noch weit ist, bis jemand sagen kann: "Ich bin ein Europäer aus Prag."

Nachdem es die nationale Identität erst als eine Art wirtschaftlichen Patriotismus betrachtet hat, etwa wenn ein nationales Unternehmen "Gefahr läuft, an Ausländer verkauft zu werden", stellt sich Frankreich heute eine einfache Frage: Wie können die Immigranten, die Bürger mit Immigrationshintergrund, davon überzeugt werden, dass es tatsächlich eine nationale Identität gibt? Was könnte sie dazu bewegen, die Marseillaise nicht mehr auszupfeifen? Doch im europäischen Puzzle wissen die multi-ethnischen und mehrsprachigen Gesichter nicht so recht, was eine nationale Identität ist. Sie warten darauf, dass die Ablehnung des Anderen aus den Köpfen der meisten ihrer Nachbarn verschwindet.

Gewiss, Frankreich verfügt über eine Sprache, eine Kultur und ein in den Augen der Welt vertrautes Image. Doch heute, 50 Jahre nach der Gründung der europäischen Gemeinschaft, diese Art von konservativer Fahne zu schwenken, das hat dann doch einen leicht scheinheiligen Beigeschmack. Frankreich braucht keine Definition mehr für eine bereits existierende Identität, die zudem auf Menschen, die vom Auswandern in dieses Land träumen, wie ein Lockgesang wirkt. Doch ist, wie ein Redakteur von Le Monde bemerkt, die nationale Identität kein Konzept, das sich einfach einimpfen lässt. "I love Paris" reicht nicht mehr. Es ist an der Zeit, auch "I love Europe" zu sagen. I.B.G.

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