Analyse Geflüchtete aus dem Krieg

Noch immer Willkommen? – Die Situation ukrainischer Geflüchteter in Polen

Polen nimmt weiterhin Geflüchtete aus der Ukraine auf, aber neun Monate nach Beginn des russischen Angriffs gibt es immer weniger ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Die Soziologin Daria Krivonos beschreibt, wie sich die polnische Gesellschaft und der Arbeitsmarkt seit Februar verändert haben.

Veröffentlicht am 24 November 2022 um 09:38

Die meisten ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer für ukrainische Geflüchtete (1) kommen – zumindest an den großen Hotspots in Warschau – selbst aus der Ukraine. Viele von ihnen sind selbst vor Russlands Angriffskrieg geflohen, doch diese Tatsache bleibt in den Berichten über die schnelle Mobilisierung der lokalen Communitys und ihre Solidarität für die Neuankömmlinge oft unerwähnt.

Obwohl die sofortige Reaktion und Unterstützung von Seiten Polens unbedingt anerkannt werden muss, stellt sich auch die Frage, wer in der Berichterstattung als Teil der „lokalen Communitys” anerkannt wird. Wer trägt auf lange Sicht die Kosten und den Aufwand für die Integration ukrainischer Geflüchteter, sobald die „Gastgeber” den Krieg satt haben und ihre Sympathie schwindet?

Schon jetzt wird sichtbar, wie die Hilfsbereitschaft der „lokalen Communitys” sinkt und Länder wie Polen finanzielle Hilfen für diejenigen kürzen, die Geflüchtete bei sich zuhause aufnehmen. Von Beginn an hat die Solidarität für Ukrainerinnen und Ukrainer auf dem wackeligen Konstrukt des europäischen Zusammenhalts und der Tatsache, weiß zu sein, basiert. Im Rahmen meiner Forschungsarbeit stellte mir jemand die treffende Frage: „Wie lange wird diese Solidarität anhalten? Wann werden sie anfangen, uns (Ukrainerinnen und Ukrainer) wie syrische Geflüchtete zu behandeln?”

Der temporäre Schutz für ukrainische Geflüchtete bietet diesen keinen Zugang zu umfangreichen Maßnahmen und sozialen Hilfen, die „Gastgeber” werden ihrer Rolle müde und ein nahes Ende des Kriegs ist nicht in Sicht ist. Wer also wird die Geflüchteten dabei unterstützen, sich ein neues Leben aufzubauen?

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Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die über eine Million ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die schon zu Beginn des Kriegs in Polen gelebt haben, ins Blickfeld rücken. Sie sind es, die jetzt die Integration indirekt finanzieren, indem sie Freunde und Familie in ihren oft sehr kleinen Wohnungen unterbringen – während die Lebenshaltungskosten in die Höhe schießen. Andrii, der gerade an einer polnischen Hochschule seinen Abschluss gemacht hat und nun im Lager eines Supermarkts arbeitet, hat mir ähnlich wie viele andere erzählt, dass seine Großmutter und sein jüngerer Bruder auf unbestimmte Zeit mit ihm in seinem Einzimmerapartment leben.

Im Diskurs um die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in Europa darf nicht das Bild eines weißen Europäers mit einem „Stand with Ukraine”-Banner – und seiner selektiven Solidarität – im Mittelpunkt stehen. Vielmehr muss auch die unsichtbar gemachte Arbeit ukrainischer Einwanderinnen und Einwanderer beachtet werden, die schon lange die Wirtschaft der Europäischen Union am Laufen hält und ohne die die EU so nicht bestehen könnte: 

In den letzten Jahren ging ein großer Teil der an einen Arbeitsplatz gebundenen Aufenthaltsgenehmigungen an Ukrainerinnen und Ukrainer. Das blieb größtenteils unbeachtet, wobei Polen seit 2014 in der EU die meisten Menschen mit Arbeitsvisum aufgenommen hat. Über 500.000 erstmals erteilte Aufenthaltstitel wurden fast ausschließlich in Polen jährlich an ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ausgestellt.

Nur durch die Pandemie, die den „Normalzustand” durcheinanderbrachte, wurde Europas Abhängigkeit von diesen Arbeitskräften sichtbar, weil sie nicht einreisen und bei der Arbeit erscheinen konnten. Sie wurden wieder vergessen, sobald der Notfall „vorbei” war. Nun müssen sie, die wie Andrii oft in zu schlecht bezahlten Jobs angestellt sind, zusätzlich die Unterstützung der Neuankömmlinge aus der Ukraine übernehmen. 

Betrachtet man die Verbindung der langfristigen Arbeitsmobilität der Ukrainerinnen und Ukrainer und ihre Vertreibung aus der Ukraine im Kontext der russischen Invasion, wird deutlich, dass die „Helferinnen und Helfer” den „Geflüchteten” oft sehr ähneln und die Notlage vertriebener Gemeinschaften selbst erlebt haben.

Auch die europäische Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine macht sich die Unsichtbarkeit der ukrainischen Arbeitskraft in Europa zu Nutze. Während die Ukrainerinnen und Ukrainer beim europäischen Eigenlob-Slogan „Stand with Ukraine” oft gar nicht erwähnt werden, sind genau sie diejenigen, die die Integration auf lange Sicht überhaupt erst ermöglichen: Teilweise in Vollzeit haben sie an den Warschauer Bahnhöfen gearbeitet, Informationen bereitgestellt, Gepäck getragen, Reiserouten in andere Länder geplant, Formulare und Visumsanträge ausgefüllt, Zug- und Bustickets organisiert und am laufenden Band übersetzt.


„Wie lange wird diese Solidarität anhalten? Wann werden sie anfangen, uns (Ukrainerinnen und Ukrainer) wie syrische Geflüchtete zu behandeln?”


Einige von ihnen waren Studierende, die schon vor der russischen Invasion in Polen gelebt haben und deren Mietverträge und Studierendenvisa bald ablaufen sollten. Eine dieser Studierenden, Anna, wäre fast über den Sommer zurück in die Ukraine gefahren, weil die Wohnungssuche in Warschau nicht zuletzt angesichts der steigenden Mietpreise immer schwieriger wurde. 

Dabei war die Wohnungssuche aufgrund vieler Immobilienanzeigen mit dem Vermerk „nur für Polinnen und Polen” schon vor dem Krieg für Menschen mit „ukrainischem” Akzent oder Namen nicht einfach. Anders als die ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die nach dem 24. Februar in die EU gekommen sind, haben Menschen wie Anna keinen Anspruch auf temporären Schutz und andere Hilfen (wie etwa kostenlosen öffentlichen Nah- und Fernverkehr).

Bis auch diese Hilfen gestrichen wurden, bot ein ukrainischer Pass mit einem seit Kriegsbeginn hinzugefügten Stempel von der EU-Außengrenze zudem Zugang zu kostenfreien Mahlzeiten in der Suppenküche. So stellten sich die Ukrainerinnen und Ukrainer in zwei verschiedene Schlangen: Eine für diejenigen, die mehr Unterstützung verdienten – und eine für diejenigen, die sich selbst zurechtfinden sollten. 

Im Herbst wurde Annas Miete aufgrund der steigenden Inflation um 20 Prozent erhöht, was für ihre Eltern in der Ukraine eine noch größere finanzielle Belastung bedeutete. Stand November 2022 hilft Anna immer noch unbezahlt ukrainischen Geflüchteten mit Visa-Bewerbungen für Nordamerika. Sie „engagiert sich ehrenamtlich” in einer von vielen NGOs, die stark von jungen und gut ausgebildeten Ukrainerinnen und Ukrainern mit Sprachkenntnissen in Englisch, Russisch, Ukrainisch und Polnisch abhängig sind.

Solche Geschichten sind nichts Neues und man hört sie nicht nur im Kontext der Ukraine. Die Forschung zeigt, dass in Krisensituationen in der Regel bestimmte ethnische Gruppen und sowieso schon schlecht bezahlte Fachkräfte die meiste Hilfe leisten übernehmen. Gleichzeitig sind genau diese Menschen an arbeitsintensive Jobs gebunden, die sie psychisch auslaugen und in der Gesellschaft kaum anerkannt werden. Das ehrenamtliche Engagement geflüchteter Personen wird unsichtbar gemacht und mehrheitlich nicht als wertvolle Arbeit betrachtet.

In der feministischen Theorie wird schon seit langem argumentiert, dass die Aufrechterhaltung des alltäglichen Lebens unsichtbare Arbeit ist und an bestimmte ethnische Minderheiten mit geringem Einkommen abgetreten wurde. Dieses Verständnis hinterfragt die Verbindung von Arbeit mit Lohn, was den Fokus auf unbezahlte und kaum anerkannte Tätigkeiten lenkt. Genau wie die unsichtbare Arbeit anderer Minderheiten wird das Engagement der ukrainischen Freiwilligen nicht als solche bezeichnet (Stichwort „Non-Work”) – die Geschichte dieser Art von Arbeit ist eine Geschichte von fehlender Anerkennung und Beachtung.

Seit einiger Zeit gibt es das Konzept von „Non-Work”, das das Verständnis von unbezahlter Arbeit als Ausdruck von Liebe, als Beitrag zur Gesellschaft oder Möglichkeit zum Sammeln neuer Erfahrungen problematisiert. Es lässt sich außerdem feststellen, dass bestimmte Arten von „Non-Work” unterschiedliche Anerkennung erfahren und der ihr von der Gesellschaft zugestandene Wert davon abhängt, wer diese Arbeit ausführt. Dabei spielen soziokulturelle Mechanismen in Verbindung mit ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Geburtsort und Staatsangehörigkeit eine große Rolle.

Ein paar Freiwillige am Warschauer Hauptbahnhof kamen tatsächlich aus Nordamerika und haben ihr Engagement als „Hilfe" bezeichnet, die sie leisten, weil sie angesichts der Katastrophe nicht einfach nichts tun könnten. Eine nicht unwesentliche Rolle spielten hier aber auch die ihnen zur Verfügung stehende freie Zeit und der finanzielle Aspekt: Für die meisten unter ihnen waren die Lebenshaltungskosten in Warschau mehr als erschwinglich.

Einige arbeiteten für westliche NGOs, die nur dank der größtenteils unbezahlten aber „selbstverständlichen Unterstützung" durch ukrainische Übersetzerinnen und Übersetzer überhaupt eine Hilfe waren. Manche Freiwillige aus dem Ausland waren Studierende aus den Fachbereichen Osteuropastudien sowie Russische und Ukrainische Linguistik und wollten wichtige Erfahrungen und sprachliche Praxis für die Zukunft sammeln. 

In starkem Kontrast dazu steht eine junge ukrainische Freiwillige. „Ich bekomme leider nicht einmal ein Zertifikat oder eine andere Bescheinigung für meine Arbeit hier”, erzählt sie. Nebenbei schreibt sie einen Lebenslauf für die Jobsuche. Abgesehen von umfassender Recherchekompetenz und der Fähigkeit, seelischen Beistand zu leisten, erfordert die langfristige Unterstützung im Alltag aufgrund des hohen Informationsflusses allem voran Sprachkenntnisse, die bei den ukrainischen Freiwilligen vorausgesetzt und viel zu oft als „selbstverständlich” betrachtet werden.

Weil die Freiwilligenarbeit der Ukrainerinnen und Ukrainer als „Non Work” betrachtet wird, hat sie in der Gesellschaft wenig Wert und wird als selbstverständlich betrachtet – allein aus dem Grund, dass sie „aus der Ukraine sind und natürlich die Sprache sprechen”. Die Arbeit ist unsichtbar, weil sie von anderen „Geflüchteten” ausgeübt wird.

Meine stundenlangen Interviews am Infostand werden immer wieder von Personen mit Fragen zu Wohnmöglichkeiten, Visa und dem öffentlichen Nahverkehr unterbrochen. Die Freiwilligen erzählen mir zwischendurch auch von ihren eigenen Strategien bei der Jobsuche und dem Versuch, in der EU ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Viele von ihnen hatten keinen langfristigen Aufenthalt in Polen geplant, weil die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt für Neuankömmlinge wenig aussichtsreich sind. Vielmehr erscheint die Migration in andere Länder für diejenigen mit Familie und Freunden an diesen anderen Standorten deutlich attraktiver.

Im Gegensatz zu anderen engagierten Ehrenamtlichen haben viele von ihnen – größtenteils junge Frauen – keinen Ort, an den sie zurückkehren können. Ihre Arbeit wird von der „lokalen Community" nicht mit Beifall bedacht oder auf die gleiche Weise anerkannt wie die Arbeit nicht-ukrainischer Freiwilliger. Einige der Geflüchteten arbeiteten im Dienstleistungssektor in schlecht bezahlten Branchen, etwa in Bars oder Souvenirläden.

Dies verdeutlicht nur den Zusammenhang zwischen den schlecht bezahlten Arbeitsplätzen der Geflüchteten und ihrem ehrenamtlichen Engagement, das als „Non Work” abgetan wird. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden im selbstgefälligen europäischen Narrativ lediglich als Empfänger von Hilfen dargestellt. Ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit läuft Gefahr, erneut nicht anerkannt zu werden, wie es bereits in anderen Kontexten der Migration geschehen ist.


1) In diesem Artikel wird die Bezeichnung „Geflüchtete” verwendet. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention von 1951 erhalten. 

👉Das Original wurde bei LeftEast veröffentlicht
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