Während des Generalstreiks in Lissabon am 14. November 2012.

Sparkurs treibt Europäer auf die Straße

Hunderttausende nahmen an den Demonstrationen teil, zu denen der Europäische Gewerkschaftsbund aufgerufen hatte. Dabei wurde an allen Ecken und Enden des Kontinents gegen die Sparmaßnahmen protestiert. Aufgrund der Tatsache, dass die Europäer das Wort „Sparkurs“ nicht mehr hören können, sollte man vielleicht einmal über die Art und Weise der Haushaltskonsolidierung nachdenken, meint die europäische Presse.

Veröffentlicht am 15 November 2012 um 15:16
Während des Generalstreiks in Lissabon am 14. November 2012.

Während die Streikbewegungen den Verkehr in mehreren Ländern lahmlegten, kam es in Spanien, Portugal und Italien zu Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei.

El País bezeichnet die hunderttausenden Demonstranten, die gestern „einen politischen Kurswechsel forderten“, als „paneuropäische Protestbewegung“, die „gegen das Spardiktat“ mobil macht.

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In mehreren Ländern wurde protestiert und demonstriert, in Italien und Griechenland sogar zusätzlich gestreikt. Doch entwickelten sich die Arbeitskämpfe nur in Portugal und Spanien zu wahrhaftigen Generalstreiks. Diese Form von iberischem Reflex erweckt den Eindruck als nähern sich die gesellschaftlichen Bedingungen beider Länder immer mehr an. Auf jeden Fall wird die paneuropäische Protestbewegung von einer beispiellosen Solidarität gespeist: Die Menschen vereinen sich gegen Haushaltskürzungen und die von der Bevölkerung geforderten Opfer. Der Grund ist das Defizitziel, das laut der Gewerkschaften direkt für die Rezession und die massive Arbeitslosigkeit in Südeuropa verantwortlich ist. Genau aus diesem Grund müssen die europäischen Institutionen begreifen, dass auch sie gestern von den Demonstranten ins Visier genommen wurden. Das zeigt übrigens auch die (improvisierte) Pressekonferenz von EU-Wirtschafts- und Währungskommissar, Olli Rehn. Darin reagierte der EU-Kommissar auf die Ankündigung der spanischen Regierung, den Brotkorb der Spanier 2013 nicht noch höher hängen zu wollen.

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Für die Wirtschaftsexperten „beweisen die Proteste vor allem, dass sich eine Politik der wahllosen Kürzungen und schockierenden Erhöhungen ganz schnell in einen Bumerang verwandeln kann, anstatt Vertrauen zu schaffen“, berichtet La Repubblicaaus Rom und führt fort:

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Steuererhöhungen und Kürzungen der öffentlichen Ausgaben sorgen eben auch dafür, dass das Wachstum schrumpft. Weniger Wachstum bedeutet aber auch weniger Steuereinnahmen. Folglich steigt das Defizit und das Ganze beginnt wieder von vorn. Die Art und Weise, wie sich die Krise in Griechenland in den vergangenen zwei Jahren zugespitzt hat, ist das beste Beispiel für diesen Teufelskreis der Sparmaßnahmen um jeden Preis. [...] Wie sich das alles auf das Wachstum auswirkt, bekommen inzwischen auch jene Länder zu spüren, die sonst eigentlich nicht so anfällig sind. Nach den Niederlanden gerät nun auch Frankreich langsam in Atemnot. Und erste Rezessionssymptome werfen bereits leichte Schatten auf Deutschland. [...] Beim gestrigen europaweiten Protesttag gegen den Sparkurs demonstrierte in Deutschland niemand. Mal sehen, ob das in einem Jahr auch noch so ist.

Die Welle der „Gewalt gegen die Sparpolitik“ ist auf Portugal übergeschwappt, jammert Público. In der Nähe des Lissabonner Parlamentsgebäudes endete der Generalstreik mit Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeibeamten. 48 Personen wurden verletzt, 9 festgenommen. Auf die Frage „Warum die Demonstranten protestieren?“ antwortet die Zeitung:

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Egal ob gewaltsam oder friedlich, organisiert oder allein: Was sie alle gemeinsam haben ist die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Einkommensverluste, Kürzungen öffentlicher Leistungen und immer weniger Arbeitslosengeld sind schon immer hochexplosiver Zündstoff für gesellschaftlichen Protest gewesen. Sollten die Politiker nicht schleunigst reagieren, werden wir uns an Bilder gewöhnen müssen, die wir bisher nur aus Athen kannten, und von denen sich bislang niemand vorstellen konnte, dass sie auch bald in den Straßen unserer Stadt vorherrschen werden.

„Die Leute wollen nicht, dass die Regierung soziale Leistungen kürzt, die Löhne im öffentlichen Dienst senkt und Steuern erhöht“, berichtet die Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Andererseits haben sie nach Meinung der Tageszeitung aber auch keine Alternativlösung parat,

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wie die Regierung die Schulden abbezahlen soll, die im Laufe der Jahre immer mehr geworden sind, insbesondere aufgrund des großzügigen Systems von Sozialleistungen. Der Plan, nur die wohlhabenden Länder für die Krise zur Kasse zu bitten ist politisch – aber keinesfalls wirtschaftlich – korrekt. In jedem Land gibt es nur eine kleine Gruppe reicher Menschen. Der Staatshaushalt wird dagegen von der Masse der Steuerzahler mit Durchschnittseinkommen bestritten, welche die größten Krisen-Löcher stopfen müssen. In Wirklichkeit ist Europas Schuldenkrise eine Krise des europäischen Sozialstaatsmodells.

„Europa streikt, Deutschland schaut zu“, lautet der Kommentar der Tageszeitung, die ironisierend berichtet: Während „Millionen Beschäftigte in [mehreren] EU-Staaten die Arbeit niederlegten, um gegen die Folgen der EU-Krisenpolitik zu protestieren [...] schicken die Kollegen im Krisengewinnerstaat Deutschland solidarische Grüße“. Für diesen „Mangel an Solidarität“ machten viele die deutschen Gewerkschaften verantwortlich. Sie hätten „die Menschen mehr mobilisieren können“, lautet der Vorwurf. Darüber hinaus erinnert die TAZ an das von Bundeskanzlerin Angela Merkel gepriesene Leitbild der schwäbischen Hausfrau und stellt folgende Diagnose: Die Wahrheit ist: Die Krise ist in den Köpfen und Geldbeuteln der Menschen noch nicht angekommen. Etliche Beschäftigte glauben, dass mehr schwäbisches Hausfrauentum Südeuropa nicht schaden könnte.

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Die Wahrheit ist: Die Krise ist in den Köpfen und Geldbeuteln der Menschen noch nicht angekommen. Etliche Beschäftigte glauben, dass mehr schwäbisches Hausfrauentum Südeuropa nicht schaden könnte.

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