Abgeordnete telefoniert nach Hause. Rachida Dati bei der Eröffnungssitzung des EU-Parlaments, 14. Juli 2009 (AFP)

Straßburg sehen und sterben...

Rachida Dati, die ehemalige französische Justizministerin, brachte durch ein offen gelassenes Mikrofon die Frage wieder auf den Tisch: Was tun eigentlich die EU-Abgeordneten, und wieviel Arbeit wird tatsächlich geleistet?

Veröffentlicht am 18 Dezember 2009 um 14:55
Abgeordnete telefoniert nach Hause. Rachida Dati bei der Eröffnungssitzung des EU-Parlaments, 14. Juli 2009 (AFP)

"Ich sitze gerade im Plenarsaal im Straßburger Parlament. Ich kann nicht mehr! Ich glaube, es gibt noch ein Drama, bevor meine Amtszeit vorbei ist", klagte vor ein paar Wochen Rachida Dati, die in Ungnade gefallene Ex-Primadonna und ehemalige Justizministerin der Sarkozy-Regierung, die zum EU-Parlament abbeordert wurde, einer Freundin am Telefon ihr Leid. Schade nur, dass an ihrem Jackenaufschlag noch das offene Mikrofon des TV-Senders M6 steckte und das ganze Gespräch aufnahm. Während der Plenarsitzungszeit füllt sich gegen Mittag wie durch ein Wunder der Saal und mehrere Stunden lang stimmen die Abgeordneten maschinell über Dutzende oder gar Hunderte von Abänderungsanträgen ab, von denen sie meist überhaupt nichts verstehen. Ihre Hand liegt auf den Tasten des elektronischen Wahlapparats und ihr Blick ist auf die Gruppenleiter gerichtet, die ein paar Reihen weiter unten sitzen und Anweisungen geben: Daumen nach oben heißt ja, Daumen nach unten nein. Nur Vorsicht, dass man sich nicht irrt oder – schlimmer noch! – eine Abstimmung ganz verpasst. Und zwar aus dem einfachen Grund, den auch Rachida Dati ihrer Freundin erklärte: die Sitzungsprotokolle sind nämlich öffentlich einsehbar. Sie dienen auch zur Anfertigung der Anwesenheitslisten, mit welchen am Ende jeder Legislaturperiode die Aufstellungen der eifrigsten und der faulsten Abgeordneten ausgearbeitet werden.

"Ich kann den Überdruss der Kollegin teilweise verstehen", erklärt Mario Mauro, der seit zehn Jahren für Silvio Berlusconis Partei im EU-Parlamentsitzt: "Das politische Leben besteht zu 50 Prozent aus Handlung und zu 50 Prozent aus Kommunikation. Die hier geleistete Arbeit ist ziemlich undurchsichtig, zudem kann auch der Ort frustrierend wirken, vor allem wenn man einem mondänen Leben nachstrebt. Weder in Straßburg noch in Brüssel gibt es die 'Movida', die in das politische Leben in Rom oder in Paris Stimmung bringt." Dabei hat das Europäische Parlament heute auf dem Papier sehr viel mehr Macht als jedes nationale Parlament, unter anderem auch durch den Vertrag von Lissabon, der seine legislativen Kompetenzen erweitert hat. "Wenn man über ein Gesetz über Elektro-Energie oder über das Transportwesen abstimmt und sich bewusst ist, dass es das Leben von Hunderten von Millionen von Menschen in der ganzen EU beeinflussen wird, dann kann man sich doch nicht sagen, dass man sich hier langweilt", findet Monica Frassoni, Abgeordnete der italienischen Grünen. "Aber es stimmt schon, dass manche endlosen Abstimmungen über technische Änderungsanträge, von denen man manchmal nichts versteht, sterbenslangweilig sind. Ebenso auch manche langschweifigen Konferenzen, wenn Dutzende von Kollegen in Dutzenden von verschiedenen Sprachen stundenlang reden, ohne etwas Interessantes zu sagen", fügt sie hinzu.

Anhörungen ohne Ende, ohne Punkt und ohne Komma

Der Tag des typischen EU-Abgeordneten beginnt früh. In Brüssel wie in Straßburg werden die ersten Versammlungen auf 8.00 bzw. 8.30 Uhr angesetzt. Da gibt es die Sitzungen der insgesamt etwa 20 Kommissionen: Jeder Abgeordnete ist in der Regel ordentliches Mitglied einer Kommission und stellvertretendes Mitglied einer anderen. Dann sind da die Versammlungen der politischen Gruppen, gefolgt von "Repräsentations"-Versammlungen (die langweiligsten, so Monica Frassoni) mit den Diplomaten für diejenigen, die sich mit Außenpolitik und Entwicklungshilfe beschäftigen, und mit den zahlreichen Lobbyisten, die den Themen folgen, mit denen sich der jeweilige Abgeordnete befasst. Und dann noch die "Intergroupe"-Versammlungen mit den Kollegen der anderen Parteien, die sich für dieselben Fragen interessieren.

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Ganz zu schweigen vom Studieren der Akten, vom Vorbereiten der Änderungsanträge, von den Diskussionen mit den Beamten. Die nicht enden wollende Kette von Besprechungen mit diesem oder jenem Abgeordneten, um sich seiner Unterstützung für diese oder jene Änderung eines Gesetzestextes zu versichern. Es bleibt kaum Zeit zum Mittagessen: ein Sandwich oder ein Tagesgericht in der Parlamentskantine, wenn nicht gerade ein Repräsentations-Lunch im Abgeordnetenrestaurant auf dem Programm steht. Das Abendessen mit elsässischer Küche ist hingegen das Bravourstück der Sitzungen in Straßburg. Hier entstehen oft die besten politischen Abkommen und knüpfen sich manchmal mehr oder weniger flüchtige Beziehungen.

Kein Abgeordneter bleibt am Wochenende, das ganz strikt den Beziehungen mit seinem Wahlbezirk vorbehalten ist, oft Tausende von Kilometern entfernt. Jeder Abgeordnete muss, will er wiedergewählt werden, seinem Bezirk genug Zeit und Mühe widmen. "Abgesehen von den Abstimmungen ist das Hin- und Herreisen der langweiligste und zeitraubendste Part", erklärt Gianni Pittella, Delegationschef der italienischen demokratischen Partei. "Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Fahrerei den Großteil meiner Zeit verschlingt."

Aber die Langeweile, so finden viele Parlamentarier, ist auch und vor allem eine Folge der graduellen Benommenheit der europäischen Politik. Als über die Verfassung debattiert wurde, langweilte sich zum Beispiel niemand. Heute haben die Barroso-Kommission und eine ganze Reihe von Regierungen, die vor allem damit beschäftigt waren, den Status Quo zu erhalten, nach und nach der EU-Politik jeglichen innovativen Schwung entzogen. "Die Ablehnung der europäischen Verfassung und die Rückschläge beim Vertrag von Lissabon kamen denjenigen zugute, die behaupten, dass Europa nicht stören darf, dass Brüssel, Straßburg und die EU-Institutionen möglichst nicht auffallen sollen, um die Wähler nicht zu erzürnen", erklärt ein Diplomat, der das Milieu gut kennt. "Das Europa der Erneuerung, des Wandels, der Hoffnung ist zum Europa der Routine, der Resignation, der Vorsicht wenn nicht sogar der Ängstlichkeit geworden. Die Macht ist hier natürlich noch fest verankert. Aber es ist eine Macht ohne Weitblick. Eine langweilige Macht."

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