Turm der Guaita auf der Spitze des Titano-Felsens über der Romagna-Ebene.

Tod einer Steueroase

Früher galt die kleine Republik am Fuße des Apennins als sicherer Anlageort für Schwarzgeld, doch sie wurde mit voller Wucht von der Wirtschaftskrise und Roms verschärften Maßnahmen gegen Kapitalflucht getroffen.

Veröffentlicht am 18 Oktober 2010 um 16:08
i k o  | Turm der Guaita auf der Spitze des Titano-Felsens über der Romagna-Ebene.

Das Steuerparadies der Republik San Marino scheidet unter den ersten herbstlichen, über der Festung aufziehenden Nebelwolken dahin. Der letzte Räumungsbefehl wurde Anfang Oktober ausgegeben, als die italienische Zentralbank eines ihrer Verwaltungsmitglieder an die Spitze der Sparkasse von Rimini setzte, die wiederum den san-marinesischen Credite industriale, eine der zwölf Banken der Republik, kontrolliert. Weiter geben die Inspektoren aus der Via Nazionale, [dem Sitz der italienischen Zentralbank,] an, das Geldwäschegesetz sei unbestreitbar verletzt worden.

Früher war San Marino ein Auswanderungsland. Doch in den 60er Jahren erfuhr die Adriaküste mit dem Aufkommen des Tourismus und mit der Entwicklung in Handel und Industrie einen Wirtschaftsboom. Während sich der materielle Wohlstand einrichtete, tauchte das erste Schwarzgeld auf: Hoteliers und Händler aus der Emilia Romagna legten ihre Gewinne in San Marino an.

Das organisierte Verbrechen nistete sich ein

Bis zur Überdosis der 80er Jahre. Neben den vier historischen Banken waren 59 Geldinstitute und acht Kreditanstalten hauptsächlich damit beschäftigt, Geldmittel zu sammeln und anzulegen, doch sie boten nur wenige Finanzdienste: ein echtes Schlaraffenland für alle, die illegales Geld durchschleusen wollen. Denn das schmutzige Kapital, das San Marino anzieht, stammt nicht nur aus Italien: neun von zehn Euro kommen aus dem Ausland.

Die Russen erschienen auf der Bildfläche, um Großhandel zu betreiben, und das organisierte Verbrechen schlug seine Wurzeln in der Enklave. Dann platzten bald Finanzskandale, etwa beim Delta-Konzern, der von der glorreichen, Ende des 19. Jahrhunderts mit den Ersparnissen der Bauern und Arbeiter gegründeten Sparkasse kontrolliert wurde und im Lauf der Zeit zum Zentrum der Veruntreuungen geworden war. Schließlich musste das Steuerparadies klein beigeben, denn es wurde vom weltweiten Wirtschaftstsunami, von den Mahnungen an die Steueroasen, von der Erstellung schwarzer Listen bei der OECD und vom Embargo der italienischen Regierung erfasst.

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Dann schlug San Marino über die Stränge

„Heute sind diese Zeiten vorbei. San Marino ist zu weit gegangen“, gibt Industrie-Staatssekretär Marco Arzilli zu. Die derzeitige Regierung – eine seit 2008 eingesetzte Koalition der im Untergang begriffenen Christdemokratie – tut ihr Bestes, um das der Festung anhaftende Image einer Schiebungshauptstadt abzuschütteln. „Als wir an die Regierung kamen, entsprach der Staat noch nicht den Bewertungskriterien von MONEYVAL und stand auf der grauen Liste der OECD. Innerhalb von zwei Jahren haben wir vieles ins Rollen gebracht“, erklärt auch die Staatssekretärin für Auswärtige Angelegenheiten, Antonella Mularoni.

„Wir haben die Aktiengesellschaften und das Bankgeheimnis abgeschafft; uns bei der Transparenz der Banken an die internationalen Modelle angeglichen; wir haben zahlreiche fiktive Unternehmen schließen lassen. Zudem sind wir im Begriff, zwei Abkommen zu unterzeichnen: das erste über die Zusammenarbeit zwischen unserer und der italienischen Polizei, das zweite über die Möglichkeit, den Inspektoren der italienischen Zentralbank Zugang zu den Institutionen unserer Republik zu gewähren. Nur dass sich die italienische Regierung bezüglich dieser Frage taub stellt.“ Genau wie der IWF in Washington. „Dieses Verhalten ist völlig unverständlich“, fügt sie hinzu.

Eines ist sicher: In San Marino versuchen die Bankiers, nicht aufzufallen. Letztes Jahr war der Kapitalrückfluss katastrophal: Die Zentralbank spricht von einem Rückgang um 35 Prozent. Die Steuerflüchtlinge trauen dem Monte Titano [auf dem San Marino steht] nicht mehr und die [in Italien verabschiedeten] Spitzensteuersätze haben alle Tresore geleert: Fast sechs Milliarden der angelegten vierzehn Milliarden Euro wurden abgezogen. Unterdessen trifft die Krise alle Branchen, mit einem Einstellungsstopp und einem Liquiditätenrückgang für die Institute, die keinen Zugang zum Interbankenmarkt haben.

"Man will uns an den Kragen"

Darüber hinaus will der Koloss UniCredit Bank seinem historischen Bündnis mit der Banca Agricola e Commerciale ein Ende setzen. „Man will uns an den Kragen“, davon ist Marco Beccari, Sekretär der demokratischen Arbeitergewerkschaft von San Marino überzeugt. „Natürlich haben die Betrüger unser Image zerstört, doch im Grunde genommen ist unsere Wirtschaft gesund und wir müssen sie schützen. 31.000 Einwohner, 20.000 Arbeitnehmer, davon 6.500 Grenzgänger aus der Emilia Romagna.“

4.000 Angestellte im öffentlichen Dienst und 15.000 Arbeitnehmer im privaten Sektor – in den Bereichen Handel, Mechanik, Stahlindustrie, Pharmaindustrie und Keramik – arbeiten in den Industriegebieten in Grenznähe. Dieser Mikrokosmos, der jahrelang unverändert geblieben ist, leidet heute unter den Folgen der drastischen Sparmaßnahmen der italienischen Regierung. Es ist die Rede von einem diesjährigen Haushaltsdefizit von 80 Millionen Euro für den Staat San Marino und von mindestens doppelt so viel für 2011. Und auch von einem eventuellen Eingreifen des IWF, der die Republik San Marino durch Kreditlinien unterstützen würde, wie Griechenland oder Argentinien.

„Manche Firmen sind nach Italien zurückgekehrt, andere nehmen unsere Rechnungen nicht mehr an. Als hätten wir die Pest“, beschwert sich Beccali. Die Wirtschaftskrise hat ihren Zoll gefordert: Letztes Jahr verlor ein Prozent der Arbeitnehmer den Arbeitsplatz. Das Arbeitslosengeld für die 1500 Angestellten explodierte und die Schwarzarbeit nahm zu. Diese Zahlen mögen lächerlich klingen, doch sie fallen in der idyllischen Welt des großzügigen Wohlfahrtstaates San Marino durchaus ins Gewicht: Hier wurden die Renten noch nach der Vergütung berechnet, Firmenkantinen boten Mahlzeiten zu 1,50 Euro an, es gab eine gute Sozialversorgung, Eigenheimkredite und Kinderkrippen.

Letzte Hoffnung Lega Nord

Diese Garantien werden heute durch das Embargo aus Rom bedroht und durch den Sturz der Immobilienbranche erschwert. Auf dem Monte Titano wurde jede kleinste Ecke bebaut, die Immobilienbranche war eines der Netzwerke für die Geldwäsche. Heute stehen mindestens 7000 Immobilien leer.

„Unser Ziel ist es, die gesunde Wirtschaft zu retten“, erklärt man bei der Handelskammer. „Sonst geht alles den Bach hinunter, auch für die italienischen Arbeitnehmer und die Unternehmen aus der Umgebung, die für San Marino arbeiten.“ Die letzte Hoffnung ist die Lega Nord, die bei den Grenzgängern zahlreiche Stimmen einheimst. „Sie alleine kann die italienische Regierung zur Vernunft bringen“, heißt es in San Marino, wo man sich daran erinnert, dass der italienische Wirtschaftsminister Giulio Termonti früher einmal Consultant für die Banken in San Marino war... (pl-m)

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