Opinion EU und Ukraine

Die mit der Ukraine befreundeten Länder müssen sich gegen jene stellen, die den EU-Beitritt der Ukraine bremsen

Trotz der Dringlichkeit der Lage sträuben sich viele EU-Mitgliedstaaten, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren. Deutschland und Frankreich, die für die derzeitige Situation mitverantwortlich sind, verhindern, dass nun eine echte europäische Solidarität entsteht.

Veröffentlicht am 15 Juni 2022 um 10:15

Die Entscheidung, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidatenlandes zu verleihen, stellt einen unumgänglichen Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer gewissen strategischen Autonomie der Europäischen Union dar, da sie von einem echten Willen der EU-Mitgliedstaaten zeugen würde, ihre im Wesentlichen national geprägten strategischen Haltungen aufzugeben, um einen gemeinsamen europäischen Ansatz zu suchen. Der Konjunktiv ist leider angebracht, seit Mario Draghi, der italienische Ratspräsident, am 31. Mai erklärte: "Der Kandidatenstatus (der Ukraine) wird von fast allen großen EU-Staaten in Frage gestellt - von allen, würde ich sagen, mit Ausnahme Italiens. Der Kandidatenstatus ist derzeit aufgrund des Widerstands dieser Länder nicht möglich - sich einen schnellen Weg vorzustellen, wäre allerdings möglich. Und es scheint mir, dass selbst die Kommission damit einverstanden ist".

Die großen EU-Staaten, also Deutschland und Frankreich, schlagen einen schnellen Weg zum Beitritt der Ukraine zur Union vor, weigern sich aber, ihr den Status eines Kandidatenlandes zu gewähren, der den Ausgangspunkt für jeden Beitrittsprozess darstellt. Das ist grotesk.

Diese zwei Staaten allerdings - Deutschland und Frankreich - tragen eine besonders schwere Verantwortung an der ukrainischen Tragödie. Sie waren es, die 2008 ihr Veto gegen den Beitritt der Ukraine zur NATO einlegten. Sie waren unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande, die Garanten des Minsker Abkommens vom 15. September 2014. Zusammen mit Mark Rutte waren sie die Architekten einer Politik, die jede konkrete Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU auf den Sankt Nimmerleinstag verschob. Auch die Revolution der Würde im Jahr 2014 änderte daran nichts. Deutschland steht zudem hinter den politischen Abwegen von Nord Stream 2, obwohl diese von den mittel- und osteuropäischen Ländern stets klar benannt wurden. Frankreich verdankt man schließlich - durch seinen nationalen Champion „Total“ – gigantische Investitionen in Russland. Eine echte Staatsaffäre, wenn man das vielsagende Schweigen der Medien und die geringe Bereitschaft der politischen und juristischen Behörden in Frankreich bedenkt, den Fall Margerie aufzuklären, obwohl die Umstände des "Unfalls", bei dem der Konzernchef ums Leben kam, Anklänge an die Machenschaften russischer Geheimdienste erkennen ließen. 

Die zentrale Rolle, die das stille Einvernehmen dieses deutsch-französische „Kondominiums“ in den letzten zwei Jahrzehnten in der Europäischen Union gespielt hat, zeigt sich bis hin zur Auflistung der Rüstungsexporte nach Russland seit 2014, und dies trotz des Embargos, das die Union nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verhängt hatte. Deutschland und Frankreich teilen sich den Löwenanteil: 80 % der Gesamtausfuhren aller EU-Mitgliedstaaten.

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Ganz zu schweigen von den unzähligen Telefongesprächen, die Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron mit dem Schlächter von Moskau führten, dem störrischen Beharren des Präsidenten Macron, Russland nicht zu demütigen. Als ob Russland andere bräuchte, um gedemütigt zu werden! Die Vergewaltigungen, auch von Kindern, die Morde und Folterungen und anderen Übergriffe, die von den russischen Truppen begangen und vom Kremlherrn "abgesegnet" wurden, die Deportationen von Hunderttausenden Ukrainern, die massive Zerstörung der zivilen Infrastruktur, die unzähligen Verstöße gegen das Kriegsrecht stellen die wahre Demütigung des russischen Volkes dar.


13 Mitgliedstaaten der Union haben deutlich gemacht, dass in ihren Augen die derzeitige Priorität der Union nicht in der Reform der Verträge, sondern in der Ukraine-Frage, einschließlich der Anerkennung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine bestehe


Es wird zweifellos einige Jahrzehnte dauern, bis sich das russische Volk von dieser selbstverschuldeten Demütigung reinwaschen kann. Vorher und so schnell wie möglich muss Russland den Krieg verlieren und seine Armee aus dem gesamten ukrainischen Territorium abziehen.

Diejenigen in Berlin und vor allem in Paris, die glaubten, sie könnten ihr einvernehmliches  Kondominium ohne Vision und ohne Perspektive, außer einigen Arrangements mit dem Aggressor im Stile eines „Maréchal Pétain“ bis in alle Ewigkeit fortsetzen, sehen sich zum ersten Mal einer organisierten Opposition gegenüber: 13 Mitgliedstaaten der Union haben deutlich gemacht, dass in ihren Augen die derzeitige Priorität der Union nicht in der Reform der Verträge, sondern in der Ukraine-Frage, einschließlich der Anerkennung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine bestehe.

Auf eine besondere Art auch eine Erinnerung, dass die Festlegung der Modalitäten und der Dauer des Beitrittsprozesses nicht in den Händen der Mitgliedstaaten, sondern der Europäischen Kommission und des Beitrittskandidaten selbst liegt. Die Rolle des Rates und des Europäischen Parlaments besteht darin, auf der Grundlage der Berichte der Kommission den Fortschritt des Prozesses zu bewerten und an dessen Ende die endgültige Bewertung der Kommission zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die politische Entscheidung, die der Europäische Rat im Juni 2022 treffen muss, ist daher kristallklar - der Ukraine den Status eines Kandidatenlandes zuzuerkennen oder nicht. Offensichtlich hat das deutsch-französische Kondominium über die Europäische Union dies immer noch nicht begriffen, ebenso wenig wie es die neue Situation bemerkt hat, dass sich innerhalb der 27 EU-Staaten eine neue, starke Sperrminorität herausgebildet hat.

Um der Einsicht der deutschen, französischen und weitere Verfechter der petainistischen Option auf die Sprünge zu helfen, wären die oben genannte 13 und andere Mitgliedstaaten gut beraten, schon jetzt anzukündigen, dass sie ohne eine positive Entscheidung über die Gewährung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine, gezwungen wären, auf die von General de Gaulle erstmals eingeführte Praxis des leeren Stuhls zurückzugreifen, anders gesagt, dass sie an den nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs nicht teilnehmen werden.


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