Ich hätte nicht weiter von der Ukraine entfernt sein können, als der Krieg begann. Am 24. Februar, als Wladimir Putin seine "militärische Sonderoperation" startete, feierte mein Heimatland Estland seine 104-jährige Unabhängigkeit, und ich habe in Los Angeles, 10.000 km von der Ukraine entfernt, einen Geschichtskurs über apokalyptische Bewegungen gegeben. Die Entfernung zwischen Tallinn und Kiew ist mit 1000 km exakt zehnmal geringer.
Was für einen Unterschied 9.000 km ausmachen können. Ein Freund erzählte mir, dass er nicht schlafen konnte, weil er ständig nach seinem Handy griff, um sich durch die neuesten Front-Nachrichten zu scrollen. Ein anderer Freund deckte sich mit Konserven und Treibstoff ein. Verwandte von mir, ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, diskutierten darüber, in welches Land sie fliehen sollten, wenn es hart auf hart käme. "Ich glaube nicht, dass Putin hier einmarschieren wird - aber es kann nicht schaden, darauf vorbereitet zu sein" - das sagten die meisten meiner Landsleute zu dieser Zeit. Ich selbst folgte einer ähnlichen Logik. Sicherlich haben sie überreagiert - aber an eine Überreaktion hatten ja auch alle noch vor dem 24. Februar geglaubt.
In Los Angeles war es - leider - leichter, die Ukraine von sich fernzuhalten. Weniger Menschen haben persönliche Verbindungen zu der Region, Nachrichten über den Krieg wurden schnell von Diskussionen über steigende Benzinpreise und den Rechtsruck des Obersten Gerichtshofs überschattet. Versuche, der Krise einen Sinn zu geben, kamen schnell zu dem konfusen Ergebnis, dass der Krieg eine Folge der NATO-Erweiterung sei und es daher - wie alles andere in diesem narzisstischen Land - letztlich um die Vereinigten Staaten gehe.
Gelegentlich erinnerte mich aber doch jemand daran, dass LA keine andere Welt ist. Eine Studentin erzählte mir zum Beispiel, dass sie bei der Gaming-Firma, für die sie arbeitet, einen ukrainischen Designer haben. Dieser hatte in letzter Zeit mehrere Abgabetermine verpasst, weil er von Charkiw aus arbeitet und immer wieder durch Luftalarm unterbrochen wurde.
Als ich Anfang Mai nach Estland zurückkehrte, war der Krieg für die meisten Menschen, die ich kannte, bereits Teil des Alltags geworden. Die anfängliche Panik über eine mögliche russische Invasion im Baltikum war dem nüchternen Bemühen um die Unterstützung der Ukrainer im In- und Ausland gewichen. Bis heute hat Estland über 40.000 Flüchtlinge aufgenommen. Das ist vergleichbar mit der Zahl der Flüchtlinge im Vereinigten Königreich, dessen Bevölkerung jedoch mehr als Fünfzigmal so groß ist wie die Estlands, wo derzeit 300 Flüchtlinge auf 10.000 Einwohner kommen.
Das Kulturzentrum auf der anderen Straßenseite meines Hauses war zu einem zentralen Ort für Freiwillige geworden, wo Menschen Spenden sammelten und sortierten. Ein Freund verschickte E-Mails mit der Bitte um Hilfe bei der Lieferung von Treibstoff an Flüchtlinge, die sie in einer freien Wohnung untergebracht hatten. Ein anderer organisierte Lieferungen von medizinischen Hilfsgütern an die Front. Manche schliefen noch immer nicht, weil sie weiter ununterbrochen Nachrichten auf ihren Handys lasen.
In politischer Hinsicht hat der Krieg alte Spannungen zutage gefördert, von denen einige dachten, sie seien schon lange begraben. Andere Spannungen wurden plötzlich noch viel deutlicher als sonst. Ein konservativer Politiker etwa, der sich während der syrischen Flüchtlingskrise vor einigen Jahren noch konsequent gegen die Umsiedlungspolitik der EU ausgesprochen hatte, verkündete nun, dass die osteuropäischen Staaten den Zustrom von Flüchtlingen nicht allein schultern könnten, und forderte mehr Solidarität von den westlichen Mitgliedern der Union. Da fühlte ich mich an die Definition des Begriffs „Chuzpe” von Leo Rosten erinnert: „Die Dreistigkeit eines Menschen, der seine Mutter und seinen Vater ermordet hat, aber Gnade vor Gericht verlangt, weil er ein Waisenkind ist."
Nach einer kurzen, seltsam ruhigen Phase kam die rechtsextreme Konservative Volkspartei dann mit ihrer alten "die Einwanderer wollen uns unsere Arbeitsplätze wegnehmen"-Leier, aber bisher scheint sie damit auf taube Ohren zu stoßen. Vielleicht ist das auch gar nicht so überraschend. Denn plötzlich scheinen auch die estnischen Mainstream-Medien jegliches Interesse an moralischer Panikmache verloren zu haben. Sie fragen nun nicht mehr, warum die in Estland ankommenden Flüchtlinge so teure Telefone (auch bekannt als handelsübliche Smartphones) besitzen, ob sie seltene Krankheiten haben oder ob ihre Werte auch mit der estnischen Kultur vereinbar seien. Die Ukraine-Krise hat überdeutlich gemacht, dass die rassistische Hysterie im Zusammenhang mit Flüchtlingen nie ein rechtsextremes Phänomen allein war, sondern schon lange von den Mainstream-Medien und der politischen Mitte geteilt wurden.
Kürzlich protestierten Menschenrechtsorganisationen gegen einen Gesetzesentwurf, der es erlauben würde, Menschen an der Grenze abzuschieben, ohne ihre Asylanträge „im Falle einer Notsituation oder einer Bedrohung der nationalen Sicherheit" zu prüfen. Eero Janson, der Vorsitzende des estnischen Flüchtlingsrates, bezeichnete das vorgeschlagene Gesetz ohne jeden Zweifel als „einen Verstoß gegen die Flüchtlingskonvention von 1951, die Europäische Menschenrechtskonvention und sogar gegen das Recht der Europäischen Union". Der Krieg in der Ukraine hat die estnische Politik also weniger verändert, als man hätte hoffen können.
Die Frage der russischen Minderheit in Estland hat sich politisch als ebenso vergiftet erwiesen. Von den ersten Kriegstagen an hat die Krise vor allem jenen rechten Kräften in die Hände gespielt, die seit Jahren vor der Bedrohung durch den „russischen Bären" gewarnt haben. Durch diese Bestätigung ermutigt, sind sie nun in die antirussische Offensive gegangen, was wenig dazu beiträgt, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, den estnischen Nationalisten jedoch politische Pluspunkte verschafft.
In politischer Hinsicht hat der Krieg alte Spannungen zutage gefördert, von denen einige dachten, sie seien schon lange begraben
So hat beispielsweise die Frage, ob ukrainische Kinder nun in der Schule auf Estnisch oder Russisch unterrichtet werden sollen, den Streit darüber wieder aufflammen lassen, ob der Russischunterricht nicht ganz abgeschafft werden soll, was seit Jahrzehnten bereits versucht wird. Die gemäßigte Rechte besteht darauf, dass die Ukrainer auf Estnisch unterrichtet werden, während die örtlichen Behörden Alarm schlagen und darauf hinweisen, dass jetzt alle Schulen unabhängig von der Unterrichtssprache Flüchtlingskinder aufnehmen müssten, weil das Bildungssystem sonst überfordert sei.
Die Rechtsextremen wiederum beschuldigen die Regierungskoalition, die Flüchtlinge zu benutzen, um russische Schulen zu erhalten und auszubauen. Eine reine Verschwörungstheorie. Niemand scheint sich dafür zu interessieren, was die Ukrainer selbst vorziehen würden.
Politiker aus dem gesamten Spektrum haben jetzt außerdem vorgeschlagen, die Rechte der russischen Minderheit auf vielfältige Weise zu beschneiden, von der Einschränkung ihres Rechts auf Waffenbesitz bis hin zum Entzug des Wahlrechts für russische Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in Estland bei Kommunalwahlen. Dass Denkmäler aus der Sowjetzeit abgerissen werden müssen, ist inzwischen so etwas wie eine allgemein anerkannte Weisheit. Im Mai haben zwei der größten Universitäten Estlands beschlossen, russischen und belarussischen Staatsbürgern im kommenden Studienjahr die Zulassung zu verweigern. Der Rektor von Estlands drittgrößter Universität Tallinn, hat daraufhin einen Artikel geschrieben, in dem er das Recht auf Bildung unabhängig von der Nationalität mit Leidenschaft verteidigte, wurde aber vom Senat der Universität überstimmt.
Letzte Woche wurde ich von einem Freund zurechtgewiesen, weil ich einen Artikel eines russisch-estnischen Politikers retweetet hatte, in dem die estnische Regierung beschuldigt wurde, russische Bildung, Medien und Kultur seit Langem zu vernachlässigen. „Kein Wunder, dass viele Russen in Estland Putins Aggression nicht verurteilt haben und dass sie dem Gerede von der Entnazifizierung Glauben schenken!”, heißt es in dem Tweet. Ein gutes Argument, fand ich.
Mein Freund - man konnte förmlich sehen, wie ihm der Zorn ins Gesicht stieg - hingegen argumentierte, dass den Russen in Estland damit jegliche Verantwortung abgenommen werde. „Wann hören wir endlich auf, über das Versagen des Staates zu reden, darüber, ob er dies oder jenes tun, anstatt einfach zu sagen: Wacht verdammt noch mal auf, seht euch an, was da passiert, und hört auf, Putins Bullshit zu wiederholen?"
Und ich konnte seinen Standpunkt ehrlich gesagt auch verstehen.
Vier Monate nach Beginn dieses verdammten Krieges fühlt sich Tallinn ähnlich an wie Los Angeles im Februar. Die Menschen reden über die Inflation, über den Zusammenbruch der Regierungskoalition, über die bevorstehende Hitzewelle und über ihre Urlaubspläne. Alles geht seinen gewohnten Gang. Doch Nachrichten aus Severodonetsk sind natürlich immer noch auf den Titelseiten zu finden. Schließlich findet dieser Krieg auf unserem Kontinent statt. Während der Flüchtlingsrat darüber klagt, dass die Regierung nicht mit den NGOs zusammenarbeitet und neu angekommene Flüchtlinge an der Grenze in Narva ohne Hilfe zurücklässt, wird im staatlichen Rundfunk erneut dazu aufgerufen, Denkmäler aus der Sowjetzeit „auf den Müllhaufen der Geschichte" zu werfen.
Tausende Kilometer von der Front entfernt, ist es in diesen ersten Sommertagen leicht so zu tun, als sei alles beim Alten. Aber das ist es nicht. Die Zeiten sind schlimmer geworden. Und sie werden immer noch ein kleines bisschen schlimmer werden.
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