Wachstum muss her!

Die unterschiedlichen Wahlergebnisse vom 6. Mai haben gezeigt, wie zerrissen das Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern ist. Um zu verhindern, dass die Situation aus dem Ruder läuft, muss die obsessive Sparpolitik jetzt beendet werden. Solidarität und die Integration müssen gestärkt werden, denn sie haben Europa stark gemacht, meint ein italienischer Leitartikler.

Veröffentlicht am 10 Mai 2012 um 16:35

Schluss mit dem Europa der Rechthaberei, der Unternehmer, für die das Gesetz des Stärkeren das einzig gültige ist. Schluss mit einer Union, die in eine Lehenspyramide ausgeartet ist - zuoberst ein großer Staat, darunter ein Heer von Vasallen unterschiedlichen Ranges zu seinen Diensten.

Schluss mit dem Europa der großen Reden, das nichts zustande bringt: Skandalös, wenn es die Wirtschaftskrise plagt, der Sparkurs das Übrige dazutut und es immer weniger Arbeit gibt.

Die Ablehnung richtet sich nicht nur gegen Europa

Nie war die unselige Kluft zwischen Europa, seinen Führungskräften und seinen Bürgern je so spürbar wie jetzt, am vergangenen Super-Wahlsonntag. Ein Bruch, erwachsen aus einem gemeinsamen Projekt, das nicht nur ins Stocken geraten ist, sondern nunmehr auch Geist und Politik seiner Anfangszeit verleugnet und beharrlich die Realität verweigert: immer mehr Unzufriedenheit und Frust, die Probleme der Menschen.

Daher die fehlende der Zustimmung in der Bevölkerung. Noch keine absolute Ablehnung, aber fast. Nun muss Europa neu durchstarten, andernfalls ist es bald am Ende. Um die Bevölkerung wieder wohlwollend zu stimmen, braucht es nun dringend zwei Dinge: wirtschaftliches und politisches Wachstum.

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Zunächst eine neue demokratische Dynamik auf allen Ebenen, auch interinstitutionell, ohne jedes Diktat von oben, durch Rückbesinnung auf die Rechtsgemeinschaft und der entsprechenden Gleichheit der Staaten vor dem Gesetz sowie des Prinzips „In Vielfalt geeint“ (in Vielfalt, nicht in Einheitlichkeit). Nur auf diesem Weg ist eine Lösung der Vertrauenskrise, eine Überwindung des übergroßen Misstrauens möglich, das heute das Zusammenleben in Europa vergällt.

Doch ohne konkretes Wirtschaftswachstum, das nicht nur in Erklärungen heraufbeschworen wird, ohne neue Arbeitsplätze, ohne transeuropäische Brücken und Autobahnen, Netzwerke im Digital- und Energiebereich, kurz: ohne ein Europa der Möglichkeiten und der Hoffnung anstelle eines Europas des Sparkurses und der Verzweiflung gibt es keinen Ausweg aus dem Dilemma.

Hollandes Revolution ist allein zu schwach

Es wäre falsch zu glauben, dass das sozialdemokratische Frankreich eines François Hollande, das auf eine Wiederankurbelung der Wirtschaft gesetzt und so die Wahlen gewonnen hat, den Widerstand Deutschlands allein überwinden könnte.

Wodurch vermieden werden könnte, dass sich das Debakel um Griechenland, wo der übertriebene Sparkurs am Sonntag schließlich auch zu einer Abkehr von allen demokratischen Prinzipien und einem Anstieg des Extremismus aller Couleurs führte, wiederholt.

Damit dies gelingt, sollte Paris eine Art Heilige Allianz als soliden Gegenpol gegen die Übermacht Deutschlands bilden, die bislang dominiert hat, weil ihr bislang keine ernsthaften Grenzen gesetzt worden waren.

Der Weg des Wachstums im Rahmen eines Sparkurses ist schwierig, doch notwendig für einen ernstzunehmenden Dialog mit Angela Merkel, Hollande scheint die Kombination Wachstum-Sparkurs mit Überzeugung zu akzeptieren - unter diesen Voraussetzungen ist eine Einigung mit Italien unter Monti, der Kommission Barroso, Spanien unter Rajoi, Portugal, Griechenland, Belgien und den Niederlanden nur eine Frage der Zeit.

Der EU-Sondergipfel vom 23. Mai könnte der richtige Zeitpunkt sein, um neue Machtverhältnisse und konkrete Strategien zur Wiederankurbelung der Wirtschaft auszutesten.

Neue Wachstumsideen, die den europäischen Geist verkörpern

Kein leichtes Unterfangen. Ideen gibt es viele: Project Bonds zur Finanzierung von Infrastruktur-Großprojekten, Erhöhung des EIB-Kapitals, Neuorientierung der EU-Strukturpolitik (das Geld aus den Strukturfonds ist zum Teil ungenutzt), Finanztransaktionssteuer, in fernerer Zukunft dann die Eurobonds.

Und schließlich noch die Einführung der Golden Rule, einer goldenen Finanzierungsregel, gemäß der Investitionen in eine nachhaltige Entwicklung aus der Defizitberechnung ausgenommen werden, und eine flexiblere Auslegung des Fiskalpaktes, bei der der Sanierung des Staatshaushaltes mehr Zeit eingeräumt wird, was ihn sozial und wirtschaftlich akzeptabler macht.

Alles Ideen, die auf irgendeine Weise an Solidarität und Zusammenhalt appellieren, also an den europäischen Geist, der in den letzten beiden Jahren verlorengegangen ist beziehungsweise erst im letzten Moment durch den Druck der Märkte wieder hinter den vorherrschenden nationalen Engstirnigkeiten und Egoismen zum Vorschein kam.

Politische Union statt reiner Wirtschaftspolitik

Wirtschaftswachstum ist unverzichtbar, doch soll es wirklich europäisch und nachhaltig sein, braucht es mehr. Mehr Einheit auf allen Ebenen, Anpassung von Satzung, Zielsetzungen und Handlungsspielraum der EZB nach 10 Jahren Euro und unter Berücksichtigung der erfolgten Globalisierung der Wirtschaft und der Märkte. Ein zeitgemäßes Gesellschafts- und Entwicklungsmodell. Eine politische Union. Andernfalls wird Europa kaum mehr lange bestehen können.

Die Herausforderung ist ungemein groß und nur durch eine kulturelle Kontrarevolution zu meistern, die uns das verlorene Europa wiederfinden lässt. Machbar? Fest steht jedenfalls, dass die Wiederankurbelung der Wirtschaft der erste Schritt in Richtung Versöhnung mit den Bürgern ist, denn ein Projekt, das das Wachstum erstickt, kann nicht auf Zustimmung stoßen.

Der Rest kommt von selbst, wenn auch das Vertrauen zwischen den Regierungen wiederaufgebaut werden kann. Wenn sich alle wieder als gleichwertige Partner sehen und einen auf gegenseitigem Respekt beruhenden Dialog führen, unter Rückbesinnung auf die gemeinsamen Interessen in einer globalen Welt, in der Europa jeden Tag ein wenig kleiner wird. Und es lernen muss, rasch zu handeln.

Meinung

Der Euro als schlechte Erfahrung

„Die Eurozone, die schlechteste Erfahrung seit jeher?“ fragt sich Peter de Waard in der Volkskrant. Nach Ansicht des Wirtschaftsjournalisten sind die 17 Länder der Einheitswährung so sehr verschieden, dass sich die Probleme in der Eurozone ganz selbstverständlich anhäufen und immer unlösbarer scheinen.

1992 hätten Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident Mitterrand lieber mit verbundenen Augen Pfeile auf eine Weltkarte werfen sollen, um die Länder für das Euro-Projekt auszuwählen“, schreibt De Waard und stützt sich dabei auf eine Untersuchung der Wirtschaftsexperten der Bank JP Morgan. Diese haben spaßeshalber Fantasie-Währungsunionen anhand der Wirtschaftsstatistiken mehrerer Länder erstellt.

Wie De Waard bemerkt, gebe es demzufolge weniger Unterschiede zwischen „allen Ländern, die auf dem fünften Breitengrad Nord liegen – darunter unter anderem Kolumbien, Kamerun, Südsudan, Surinam, Brasilien, Venezuela und Indonesien“ als zwischen den Staaten der Eurozone. Das gleiche gilt für Länder, deren Name mit M beginnt (Mali, Madagaskar, Marokko, Mazedonien, Mexiko und die Mongolei).

Insbesondere die Unterschiede in den Bereichen Produktivität, Rechtssystem, Wettbewerbspolitik und Verschwendung der Staatsfinanzen machen die Eurozone so gar nicht homogen.

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