Nachrichten Bundestagswahlen 2013

Wie soll man mit Deutschland bloß umgehen?

Hegemonialmacht, aber aufgrund der eigenen Vergangenheit abgeneigt, diese Dominanz auszuspielen. Entschlossen, aber zögernd bis an die Grenze der Nervenschwäche. Diese schwer begreiflichen Widersprüche erklären die zahlreichen Klischees, mit denen Deutschland im Ausland begegnet wird.

Veröffentlicht am 17 September 2013 um 11:23

Es sind Versuche, eine offensichtliche, allgegenwärtige Machtsstellung psychologisch zu analysieren. Eine Macht, die Deutschland tunlichst verbirgt und mit der die anderen Länder der Union nicht umzugehen wissen. Seit Beginn der Krise leben die Stereotypen wieder auf, und Europa wartet fasziniert und wie gelähmt auf den Ausgang der Bundestagswahlen vom 22. September. Nur ein paar Monate später, Ende Mai kommenden Jahres, stehen die Europawahlen an. Die deutschen Bundestagswahlen werden innerhalb der Europäischen Union als der erste Akt eines Dramas gesehen, in dem die kränkelnde europäische Demokratie im Mittelpunkt steht.

Es ist die Geschichte eines Deutschlands — für immer und ewig die „bleiche Mutter“, wie es in Brechts Gedicht heißt —, das ungeduldig darauf wartet, nicht mehr „unter den Völkern zu sitzen, [zum] Gespött und [als] eine Furcht“. Ein Land, dessen Urteil vernünftig ist und das sich Europa aufopfert.

Im Guardian, bekräftigt Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble diesen Wunsch: „Wir wollen kein deutsches Europa. Wir fordern nicht, dass die anderen so sein sollen wie wir.“

Doch die Deutschen sind entschlossener, als sie zugeben wollen. Wolfgang Schäuble bittet seine Partner, sich nicht nationalistischen Stereotypen hinzugeben, doch seine Argumentation, seine Art, Dinge kleinzureden sind nun einmal stereotypisch. Das passive Warten auf den Ausgang der deutschen Wahlen bestätigen die hegemoniale Stellung Deutschlands, die als unverrückbar, unausweichlich gilt. Ebenso wie Deutschlands Stimme allein allen anderen Ländern der Union die Sparpolitik aufzwingt.

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Es fehlt der normative Kern

Die klarsten Köpfe finden sich unter den deutschsprachigen Intellektuellen — die Philosophen Jürgen Habermas und Ulrich Beck, der Schriftsteller Robert Menasse, sowie der frühere Außenminister Joschka Fischer. Seit Beginn der Krise kritisieren sie die nationalistische Regression ihres Landes. Von den Parteien wird diese Diagnose nur von den Grünen geteilt. Joschka Fischer, selbst ein grüner Spitzenpolitiker, beschuldigt die Regierung, nach sechzig Jahren die alte Obsession der „deutschen Frage“ wiederbelebt zu haben. [[Angela Merkel wird vorgeworfen, zu einem Europa der souveränen Staaten zurückkehren zu wollen]]: jenes wetteifernde Europa, das sich in den vergangenen Jahrhunderten so oft bekriegt hat. Genau um dies zu verhindern wurde in den Fünfzigerjahren der Schutzwall Europäische Union geschaffen.

Ein nicht unbegründeter Verdacht. Nach und nach hat die Kanzlerin ihre pro-europäische Haltung, die sie noch im Februar 2012 verteidigte, aufgegeben. Für den Moment hat sie die Türen, welche sie einen Spalt geöffnet hatte, wieder geschlossen. Sie spürte um sich herum einen Neonationalismus aufkeimen (die neugegründete Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) findet Anhänger im rechten wie im linken Lager) und passte sich der Lage rasch an. Merkels öffentlicher Person, bedauert Jürgen Habermas](4054661) scheine „jeder normative Kern zu fehlen“. Weshalb sie sich auch Großbritannien anschließen konnte, als David Cameron gegen jegliche Erhöhung des EU-Budgets sein Veto einlegte: Gemeinsam sagten sie Nein zu einer europäischen Politik, welche die Auswirkungen der nationalen Sparprogramme hätte mildern können.

Am 13. August befreite sich Merkel von einer Last: „Europa muss enger seine Wettbewerbsfähigkeit abstimmen, aber dazu muss ich nicht alles an Brüssel abgeben. Man muss auch fragen dürfen, ob wir [Kompetenzen] zurückbekommen. Darüber werden wir nach den Bundestagswahlen reden“.

Merkel erkannte die „Gunst der Stunde”

Für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse liegt die Wurzel des Übels, welche den Euro plagt, eher im Politischen als im Wirtschaftlichen: nämlich darin, dass die Staaten wieder mehr Macht zurückfordern. Eine Rückeroberung, die nicht erst vor kurzem begann, sondern schon 2007, als man — anstelle einer europäischen Verfassung — den Vertrag von Lissabon unterzeichnete. Seit diesem Zeitpunkt haben die Staaten begonnen, im Ministerrat und im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Man stritt über die illusorische, aber dennoch nicht weniger arrogante Souveränität der europäischen Institutionen und unterhöhlte kontinuierlich deren Macht. Die Konstruktionsfehler des Euro sind bekannt: sie liegen in der mangelnden politischen und wirtschaftliche Union. Doch die Antwort besteht darin, die Konstruktionsfehler zu verschärfen, anstatt zu beheben.

In einem Europa, in dem die Staaten wieder die Macht übernehmen, ist es unvermeidlich, dass die größte Wirtschaftsmacht das Steuer in der Hand hat. Und sie tut mit einem gewissen Maß an Boshaftigkeit, dermaßen dass Ulrich Beck sich auf das machiavellistische Modell beruft, wenn er über das quasi umständehalber entstandene Berliner Imperium schreibt: „Die Kanzlerin erkannte in der Krise die „occasione“, die „Gunst der Stunde“, und in machiavellistischer „virtù“ gelang es ihr, die historische Gelegenheit zu nutzen, um davon [...] außenpolitisch zu profitieren.“

Die Union sei keine „Gemeinschaft“ mehr, wenn die Schuldnerländer mit der Vokabel „Länder der südlichen Peripherie“ gedemütigt werden. So erklärt sich auch die Auflösung jeglichen „normativen Kerns“ sowie die Wendigkeit der deutschen Positionen: sei es in der Frage der Rückzahlungen, einer europäischen Föderation oder der Bankenunion, die erst eingefordert wurde und dann abgelehnt, um die Interessen heimischen Banken zu wahren. Überlassen wir noch einmal Ulrich Beck das Wort: „Der Fürst, so Niccolò Machiavelli, der erste Denker der Macht, müsse sich nur dann an sein Wort von gestern halten, wenn es ihm heute Vorteile bringe.“

Deutscher Gedächtnisschwund

Die isolationistischen Tendenzen der AfD beschleunigen diesen Regressionsprozess noch. Sollte diese Partei in den Bundestag ziehen, würde das Land ein anderes Gesicht bekommen, ohne sich jedoch wie Großbritannien an den europäischen Rand zurückzuziehen: Die Verwirklichung Europas ist im deutschen Grundgesetz verankert (Artikel 23, geändert 1992). Doch das gewünschte Europa ist keine Föderation.

Der letzte Allgemeinplatz betrifft das Erinnern. [[Die deutsche Politik weist erstaunliche Gedächtnislücken auf]]. Man erinnert sich an die Inflation in der Weimarer Republik, aber nicht an die Deflation und brüningsche Sparpolitik von 1930 bis 1932, welche den Grundstein für Adolfs Hitlers Wahlerfolg legte. Man erinnert sich an den Nationalsozialismus, aber nicht daran, was danach geschah: das Schuldenabkommen von 1956. 65 Staaten (darunter Griechenland) erließen Deutschland großzügig einen Teil seiner Schulden. Selbst der Mythos vom Deutschland, das seine Lehren aus der Geschichte gezogen hat, wird teilweise untergraben, wenn es anfängt Europa in ein Zentrum und in „Favelas“, in Heilige und Sünder, aufzuteilen und dabei vergisst, was man früher „Gemeinschaft“ nannte. Ein Begriff, dem man einst zum Namen erhob und der nach und nach und viel zu leichtfertig aufgegeben wurde

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