Data Arbeit und Beschäftigung

In Europa gibt es fast keine Arbeitslosigkeit mehr – eine gute Nachricht?

Die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist praktisch verschwunden und liegt mit 6,7 % der Erwerbsbevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit dreißig Jahren. Dennoch stagniert die Produktion. Wie ist das möglich? Das französische Magazin Alternatives Economiques entschlüsselt die Situation.

Veröffentlicht am 1 Mai 2023 um 12:44
Jean Dobritz voxeurop travail

Vor noch nicht allzu langer Zeit waren alle Augen auf die Arbeitslosenzahlen gerichtet. Sie waren das politische Barometer schlechthin und wurden von allen gewählten Politikern unter die Lupe genommen, die die Stimmen ihrer Mitbürger erhalten wollten. Heute ist diese Sorge verschwunden. Dass sich niemand mehr um die Arbeitslosigkeit sorgt, liegt daran, dass die Nachrichten an dieser Front in Europa ziemlich gut sind.

Die Erholung nach der Gesundheitskrise verlief V-förmig, und die wichtigsten Arbeitsmarktindikatoren befinden sich auf dem höchsten Stand seit der Jahrhundertwende“, betont ein Bericht von Eurofound. „Zum ersten Mal seit einer Generation ist der Arbeitskräftemangel statt der Arbeitslosigkeit – also das Arbeitsangebot statt der Nachfrage – das dringendste politische Anliegen“.

Die Arbeitslosigkeit ist auf 6,7 % der Erwerbsbevölkerung in der Eurozone gesunken, der niedrigste Stand seit dreißig Jahren. Der Höhepunkt im Jahr 2020, als die Volkswirtschaften heruntergefahren wurden, ist inzwischen Geschichte. „Die Covid-Krise war eine extrem schnelle Rezession. Auf die rasanten Einbrüche der Aktivität während der Lockdowns folgten abrupte Erholungen“ , erklärt der deutsche Forscher Enzo Weber vom IAB-Institut. Die Auswirkungen der großen Finanzkrise von 2008 sind endlich beseitigt, zumindest im Durchschnitt der Eurozone. Für die Länder im Süden des Kontinents trifft dies noch nicht zu, da sie diesen wirtschaftlichen Schock sowie die anschließende Staatsschuldenkrise mit voller Wucht zu spüren bekamen.

In den meisten Ländern ist der Rückgang jedoch signifikant – insbesondere in denen, die allgemein am schlechtesten abschneiden: In Griechenland (-5,2 Punkte) und Spanien (-1,6 Punkte) ist diese Quote zwischen Ende 2019 und Ende 2022 am dramatischsten gesunken. In Italien sind die Aussichten ebenfalls ermutigend: „Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist wieder über das vor der Pandemie verzeichnete Niveau gestiegen. Im Januar 2023 hatten die Unternehmen etwa 500.000 Stellen zu besetzen – diese Zahl liegt um 14 % höher als 2019“ , bestätigt Cristina Tajani, Präsidentin und Geschäftsführerin von Anpal Servizi Spa, der italienischen nationalen Agentur für aktive Arbeitsmarktpolitik.

Wählt man eine erweiterte Betrachtungsgruppe, so ist festzustellen, dass die Arbeitslosigkeit in 19 der 27 Länder der Europäischen Union heute niedriger ist als vor der Pandemie. In acht weiteren Ländern ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt nahezu unverändert geblieben. Nur in Estland, Lettland, Finnland und Kroatien verschlechterte sie sich deutlich.


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Die Vollbeschäftigung ist bereits in 10 Mitgliedstaaten Realität: Sie weisen eine Arbeitslosenquote von weniger als 5 % auf, die von Ökonomen allgemein als Schwelle für die Erreichung dieses Grals angesehen wird. Dies gilt für Österreich, Dänemark, Irland, Deutschland, Niederlande, Slowenien und auch für Polen. Doch Vollbeschäftigung nur auf die Arbeitslosenquote zu reduzieren, greift zu kurz, erklärt der französische Ökonom Eric Heyer: „Damit dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit wirklich positiv ist, muss er mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote verbunden sein. Ist dies nicht der Fall, kann es bedeuten, dass eine gewisse Anzahl von Menschen entmutigt aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist und somit die Arbeitslosenquote künstlich senkt“. Diese Bedingung scheint jedoch im Moment in Europa erfüllt zu sein: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit geht tatsächlich mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote einher.

„Man kann sagen, dass wir uns der Vollbeschäftigung nähern“, kommentiert die französische Ökonomin Florence Pisani, Leiterin der Wirtschaftsforschung bei der Vermögensverwaltungsgesellschaft Candriam. „Die Beschäftigungsquote der Altersgruppe der 25- bis 54-Jährigen, d.h. des Kerns der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, ist nicht nur in Deutschland sehr hoch (86 %), sondern auch im Rest der Eurozone, wo sie mit 81,2 % ihren Höchststand erreicht hat und über dem Wert des Jahres 2007 liegt, vor der großen Finanzkrise. Die Beschäftigungsquote der 54- bis 65-Jährigen ist deutlich niedriger, steigt aber kontinuierlich an und erreicht im Euroraum 62,9 % und in Deutschland 73,8 %. Der Arbeitsmarkt ist angespannt“.

Kurz gesagt stehen also alle Indikatoren auf grün, einschließlich der Langzeitarbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung, die beide rückläufig sind. Wie lässt sich diese quasi ideale Situation am Arbeitsmarkt erklären?

Als erster Faktor ist die Demografie anzuführen. Im Jahr 2021 ist die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in der Eurozone um 0,6 % und in der Europäischen Union um 0,7 % zurückgegangen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Italien und Slowenien (-1,9 %), aber auch in Polen (-1,2 %) und Deutschland (-0,5 %); auch Frankreich bleibt nicht verschont (-0,3 %).

„In den 1980er Jahren wuchs die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ziemlich stark, jedes Jahr um 0,7 Prozentpunkt”, erklärt Eric Heyer. „Um die Arbeitslosenquote zu senken, mussten also umso mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, um dies zu kompensieren. Bei einer schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerung braucht man weniger neue Stellen, um die Arbeitslosigkeit zu senken“. Zu diesem Phänomen kommt noch ein tendenzieller Rückgang der Produktivitätsgewinne hinzu. Anders ausgedrückt: Die Menge an Arbeit, die zur Herstellung einer Ware oder Dienstleistung benötigt wird, sinkt weniger schnell als früher.

Dies erleichtert die Schaffung von Arbeitsplätzen: Wenn ein Arbeitgeber seine Produktion steigern will, kann er sich nicht allein auf die höhere Effizienz seiner Arbeitnehmer verlassen, sondern muss seine Arbeitskraft durch Neueinstellungen vergrößern. Bisher wurde ein Teil des Wachstums durch steigende Produktivitätszuwächse aufgefangen, aber diese Dynamik ist ins Stocken geraten, und man braucht nun weniger Wachstum, um mit der Schaffung von Arbeitsplätzen zu beginnen.

In der Tat steht die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts in starkem Kontrast zu der weiterhin schwachen Wirtschaftstätigkeit im Euroraum. Das BIP wuchs im letzten Quartal 2022 nur um 0,1 %, nach einem mageren Anstieg um 0,3 % im Vorquartal. Und die meisten Analysten rechnen Anfang 2023 mit einem Rückgang des Wachstums in der Eurozone.

„Wenn sich die Produktivität nicht nur verlangsamt, sondern sogar sinkt, ist der Effekt noch stärker“, erläutert Eric Heyer. „Das ist es, was in letzter Zeit viele Arbeitsplätze geschaffen hat“. Der Ökonom Patrick Artus teilt diese Feststellung: „Der Rückgang der Arbeitsproduktivität hat den Vorteil, dass er die Unternehmen dazu veranlasst, viele Arbeitsplätze zu schaffen, um ihn zu kompensieren. Dies ist umso positiver, als die Arbeitslosenquote der am wenigsten qualifizierten Personen am stärksten zurückgeht und die Beschäftigungsquote der am wenigsten qualifizierten Personen am stärksten steigt, wenn viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden“ , erläutert er in einer Forschungsnotiz ausführlich.

In der Eurozone ist die Arbeitslosenquote der Nichtakademiker immer noch doppelt so hoch wie der Durchschnitt (11,7 % im dritten Quartal 2022), aber sie ist seit dem Ende der Pandemie stark zurückgegangen (-3,1 Prozentpunkte seit Anfang 2021).

„Aber das kann nicht von Dauer sein“, warnt Eric Heyer. „Wir können nicht zu lange bei negativen Produktivitätsgewinnen bleiben, wir werden zu positiven Zuwächsen zurückkehren, vielleicht schwächer als vor der Krise, aber das Produktivitätsniveau wird trotzdem steigen“. Nicht zuletzt aus diesem Grund rechnet das OFCE (Observatoire Français des Conjonctures Economiques) mit einem erneuten Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 2023, und zwar in fast allen europäischen Ländern.

Der plötzliche Ausfall der Produktivität bleibt für die meisten Wirtschaftswissenschaftler ein Rätsel. Da man nicht genügend Abstand hat, ist es schwierig, Klarheit zu schaffen, zumal mehrere statistische Verzerrungen vorliegen. Seit der Covid-Krise ist die verdeckte Arbeit zum Beispiel gesunken. Um die Sonderhilfen im Zusammenhang mit der Pandemie zu erhalten, wurden die Arbeitgeber dazu angehalten, ihre Arbeitnehmer anzumelden. Ein Zeichen dafür, dass die Produktivität vor Covid falsch gemessen wurde, nicht unbedingt dafür, dass sie gesunken ist.

Dasselbe gilt für entsandte Arbeitnehmer, deren Zahl deutlich zurückgegangen ist: Wenn ein Pole nach Frankreich entsandt wurde, um dort zu arbeiten, produzierte er zwar in Frankreich, aber seine Beschäftigung wurde dort nicht gemeldet. Heute ist der französische Arbeitnehmer, der ihn ersetzt hat, nicht weniger produktiv als der Pole, aber seine Beschäftigung wird in Frankreich sehr wohl erfasst. Dies verzerrt den Vergleich mit der Zeit vor der Krise. 

Man muss auch den Aufschwung der „Zombie-Unternehmen“ während der Pandemie berücksichtigen, d. h. Unternehmen, die eigentlich hätten untergehen müssen, aber künstlich überleben, insbesondere durch Subventionen – dieses Phänomen ist in allen entwickelten Ländern zu beobachten, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gezeigt hat.

„Mit der Rückzahlung der staatlich garantierten Kredite bzw. der Einstellung der Hilfen wird das, was 2021 oder 2022 passieren sollte, 2023 eintreten: Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen dürfte nach und nach steigen“ , meint Eric Heyer.

Außerdem sind Zombie-Unternehmen nicht die einzigen, die Arbeitskräfte zurückhalten. Auch solide Firmen ziehen es vor, ihre Mitarbeiter zu behalten, selbst wenn sie ihnen in absehbarer Zeit nichts zu tun geben können. Woran das liegt? Daran, dass die Auftragsbücher in allen europäischen Ländern prall gefüllt sind. Vor der Krise schätzte die Industrie, dass diese Auftragsbücher ihr im Durchschnitt drei Monate Produktion sicherten, heute sind es eher sechs Monate. Aber die Unternehmen produzieren nicht, weil sie Zulieferprobleme haben.

Ein weiterer Hemmschuh für die Produktivität sind die Fehlzeiten. „Sie sind mit der Gesundheitskrise stark angestiegen, was normal ist, aber man erwartete, dass sie nach der Verteilung der Impfstoffe wieder auf das Vorkrisenniveau sinken würden. Das ist nicht der Fall“, urteilt Eric Heyer. Angesichts dieser wiederholten Abwesenheiten haben die Unternehmen einen kleinen Pool an Ersatzkräften angelegt und nutzen ihre Arbeitskräfte nicht voll aus. 

Es gibt auch enorm viele Kündigungen, die verschiedene Formen annehmen können. Auf der einen Seite gibt es die „große Kündigung“ nach angelsächsischem Vorbild, d. h. im Vereinigten Königreich und in den USA, bei der man seinen Arbeitgeber verlässt, um aus dem Arbeitsmarkt auszusteigen.

Auf der anderen Seite findet man die „große Rotation“, bei der die Arbeitnehmer ebenfalls kündigen, aber um anderswo eine neue Stelle zu finden. Diese sehr hohe Kündigungsrate soll sich auf Neuankömmlinge konzentrieren: Diejenigen, die gerade erst eingestellt wurden, kündigen nach einigen Monaten schon wieder. Die Arbeitgeber haben kaum Zeit, die Ausbildung ihrer neuen Mitarbeiter abzuschließen, da sind diese schon wieder weg.

„Aber diese hohen Fluktuationsraten werden nicht von Dauer sein“, kommentiert Eric Heyer. „Wie viele der Faktoren, die den Produktivitätsverlust erklären, ist das, was wir derzeit sehen, nicht strukturell. Ich glaube nicht, dass das Niveau der Arbeitsplatzschaffung in den nächsten Jahren hoch bleiben wird“.

Diese Feststellung teilt Florence Pisani nicht uneingeschränkt. „In allen Ländern der Eurozone ist seit 2016, lange vor der Gesundheitskrise, ein Produktivitätsausfall zu beobachten. Das ist ein eher strukturelles Problem“, urteilt sie. „In Wirklichkeit gibt es in Bezug auf die Produktivität große Ungleichheiten zwischen den Unternehmen. Eine aktuelle McKinsey-Studie über die USA zeigt, dass dies zum Teil ein geografisches Problem ist: Produktive Unternehmen sammeln sich in HUBs mit der gesamten erforderlichen Infrastruktur und vertiefen so die Ungleichheiten zwischen den Regionen“.

Auch Florence Pisani geht davon aus, dass sich die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Eurozone in Zukunft verlangsamen wird, was durch die restriktivere Geldpolitik der EZB noch verstärkt wird. Sie rechnet jedoch nicht unbedingt mit steigender Arbeitslosigkeit, da die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Europa weiter sinken wird.

Das zeigt das Beispiel Italien: Bis 2030 wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dort laut Istat um 1,98 Millionen Menschen sinken. „Es bleiben starke makroökonomische Unsicherheiten bestehen, die allen europäischen Ländern gemein sind, wie die Inflation, die Entwicklung der Rohstoffkosten, das nationale und globale BIP“, erklärt Cristina Tajani. „ In Italien bleibt das größte Problem jedoch der Bevölkerungsrückgang, der sich zum ersten Mal, seit die Kurve der Geburtenraten zu sinken begonnen hat, direkt auf den Arbeitsmarkt auswirkt“.

Die italienische Halbinsel ist bei weitem nicht das einzige Land, das betroffen ist. Nach den Berechnungen des deutschen IAB-Instituts dürfte die Zahl der auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Personen in Deutschland bis 2035 um mehr als sieben Millionen sinken. In Frankreich wird sich laut den jüngsten Projektionen des statistischen Instituts Insee der Anstieg der Erwerbsbevölkerung in den kommenden zwei Jahrzehnten verlangsamen, bevor er ab 2040 deutlich abnimmt. „Wir werden in einigen Jahren dennoch Vollbeschäftigung erreichen, aber aus demografischen Gründen“, bestätigt Eric Heyer.

👉 Originalartikel auf Alternatives Economiques
In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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