Reportage LGBTQIA+-Rechte

Mit oder ohne Krieg: Die Schwierigkeiten der LGBTQIA+-Community in der Ukraine

Seit 1991 gilt Homosexualität in der Ukraine nicht mehr als Verbrechen. Dennoch hat sich die Einstellung der Gesellschaft gegenüber der LGBTQIA+-Community seit 2014 kaum verbessert. Im Kampf für mehr Sichtbarkeit ist der Krieg mit Russland zugleich Herausforderung und Chance.

Veröffentlicht am 27 Oktober 2022 um 08:48

Vor der russischen Invasion in die Ukraine haben Sophia und Sasha in Odessa gelebt: sie als Psychologiestudentin, er mit Gelegenheitsjobs in Fast-Food-Restaurants. Anfang März wurden sie in Czernowitz in einer LGBTQIA+-Notunterkunft aufgenommen, Sophias elfjährige Schwester und ihre Mutter kamen nach. „Das Zusammenleben ist nicht immer einfach”, erzählt Sophia. “Meine Mutter ist homophob. Ich habe ihr erklärt, dass es eine LGBTQIA+-Unterkunft ist und ich ihr nichts anderes organisieren konnte. Als sie aus Kramatorsk angekommen ist, fiel es ihr lange schwer, hier ihren Platz zu finden, sie hat mit niemandem geredet. Hier sind ganz verschiedene Leute, Schwule, Lesben, trans* Personen. Damit ist sie überhaupt nicht klar gekommen und hat ihren Frust an mir ausgelassen.

Wer Teil der LGBTQIA+-Community ist, gilt noch immer als abnormal, als Bedrohung für die ,traditionellen’ Familien und damit auch für das Selbstverständnis der Ukraine an sich. Es ist dasselbe Lied wie in Russland”, erklärt Olena Tschewtschenko. Sie ist Chefin der NGO Insight, die auch die Notunterkunft in Czernowitz ins Leben gerufen hat.

Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, hat sie das Gesetz zur Kriminalisierung von Homosexualität abgeschafft. Seither ist die Toleranz gegenüber der LGBTQIA+-Community jedoch nicht nennenswert gestiegen, und sexuelle Minderheiten in der Ukraine erfahren auch heute noch Belästigung, Stigmatisierung und Gewalt: Vorletztes Jahr hat die LGBTQIA+-Organisation Nash Svit 131 Fälle von Diskriminierung und Gewalt erfasst, zwischen 2012 und 2013 waren es 50 Fälle.

Polizeischutz

2012 musste der erste CSD in der Ukraine wegen Sicherheitsbedenken wieder abgesagt werden. Ein Jahr später sind 50 Demonstrant*innen geschützt von 1.500 Sicherheitskräften durch Kiew gezogen – ohne Ausschreitungen, auch wenn die Teilnehmenden beim Verlassen der Veranstaltung mehrfach das Transportmittel wechseln mussten, um die Konfrontation mit der Gegendemonstration zu vermeiden. Bei den Euromaidan-Demonstrationen im Februar 2014 waren Regenbogenflaggen zu sehen, Anfang desselben Jahres hatte eine LGBTQIA+-Demonstration stattgefunden.

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Nach der Revolution der Würde (auch: Euromaidan) begann die ukrainische Regierung endlich, sich entsprechend der Bedingungen für eine Integration in die EU mit den LGBTQIA+-Rechten auseinanderzusetzen. 2015 gab es zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine im Interesse der LGBTQIA+-Community eine Gesetzesänderung: Das Arbeitsrecht wurde dahingehend umgeschrieben, dass alle Angestellten unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder Identität dieselben Rechte haben. 

Aber wirklich verändert hat sich die Lage nur auf dem Papier – die Realität ist lange nicht so rosig. Nach dem Euromaidan machte sich nationalistisches Gedankengut breit und die Einstellung der Gesellschaft gegenüber der LGBTQIA+-Community wurde eher noch schlechter.

Kyiv Pride 2018. | Foto : Arrideo Photography/Flickr

Rechte Gruppen konnten wegen ihrer Rolle bei der Revolution auf die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung zählen und haben für eine Ukraine mit traditionellen und konservativen Werten geworben. Sie begannen, die LGBTQIA+-Community als Bedrohung für die ukrainische Identität zu bezeichnen, und der Krieg im Donbass sowie die Annexion der Krim haben diese Entwicklung noch verschlimmert. Die nationalistischen Gruppen haben den Hass gegen Minderheiten geschürt, also gegen alle Menschen „außerhalb der Norm”.

Die Gesellschaft rüstet auf

Mit dem Krieg kam eine Militarisierung der gesamten Gesellschaft und eine Stärkung der traditionellen Rollenbilder. Maryna Schewtsowa forscht im Bereich LGBTQIA+-Rechte und beschreibt: „Die Männer sollen mit Waffen ihr Land verteidigen, die Frauen sollen es verlassen und sich mit ihren Kindern in Sicherheit bringen. In einer Gesellschaft unter Druck erwartet alle, die von dieser Norm abweichen, Ausgrenzung oder Diskriminierung.

Der Krieg schürt den Hass. Das hat Olena Tschewtschenko bereits am eigenen Leib erfahren. Im April wurde sie in Lwiw mit Pfefferspray angegriffen, als sie gerade Pakete mit humanitären Hilfsgütern entlud: „Die Angreifer sind aggressiver geworden. Sie wissen, dass man sie nicht verfolgen wird. Alle sind im Krieg.” Die LGBTQIA+-Community hat nicht nur Angst vor den Aggressionen der Ukrainer*innen, sondern auch und insbesondere vor Gewalt von russischer Seite. „Es gibt Gerüchte", erzählt die Insight-Chefin. „Und wir wissen, dass im Donbass und auf der Krim Mitglieder der Community angegriffen, gefoltert und manchmal sogar ermordet werden.

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