Presseschau Aus dem hohen Nord(west)en

Schwerwiegende Gerichtsentscheidungen in Großbritannien: Assange, Begum und die Rechtsstaatlichkeit

Diesen Monat beschäftigen wir uns in unserer Presseschau mit zwei sehr unterschiedlichen Gerichtsverfahren in Großbritannien, die beunruhigende Folgen für die Rechtsstaatlichkeit haben könnten.

Veröffentlicht am 13 März 2024 um 15:40

Vor etwa einem Jahrzehnt, als es für unter 50-Jährige noch normal war, auf Facebook über Politik zu diskutieren, postete eine befreundete Gewerkschaftsvertreterin aus Irland stolz das Riesenposter von Julian Assange in ihrem Schlafzimmer. Die Kommentare dazu waren säuerlich: „Ist das ein Witz?”, fragte ein in Irland lebender amerikanischer Aktivist, den ich bei einer Kundgebung für Abtreibungsrechte in Dublin hatte sprechen hören. Ich weiß nicht, ob seine ablehnende Reaktion damals auf die zahlreichen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange zurückzuführen war oder auf die unter vielen amerikanischen Liberalen verbreitete Ansicht, Assange sei ein Handlanger Russlands. Ich erzähle diese Anekdote, weil sie einen Wendepunkt darstellt. Denn ab diesem Zeitpunkt waren die Unterstützer von Julian Assange zunehmend in der Minderheit. 

Wie der sozialistische Schriftsteller Thomas Fazi auf der britischen Newsseite Unherd erklärt, hat ein Angriff von verschiedensten Fronten einen Großteil der Unterstützung für Assange erfolgreich zunichtegemacht, wobei auch die Unwissenheit der Öffentlichkeit ausgenutzt wurde. „Die mangelnde Sorge der britischen Regierung um Assanges Schicksal ist nicht überraschend”, schreibt er. „Besorgniserregender ist die Tatsache, dass auch ein Großteil der Öffentlichkeit relativ unbeteiligt zu sein scheint. Dies ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Kampagne, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten gegen Assange geführt wurde und die darauf abzielte, seinen Ruf zu zerstören und ihm die öffentliche Unterstützung zu entziehen. Wer nicht alle Details seines Falles kennt, könnten sogar denken, dass Assange im Gefängnis sitzt, weil er für eines der vielen Verbrechen verurteilt wurde, die ihm im Laufe der Jahre vorgeworfen wurden - von Vergewaltigung über Internetkriminalität bis hin zu Spionage.”

Assange hat seine geistige und körperliche Gesundheit sowie seine Freiheit eingebüßt für „die ganz normale journalistische Praxis der Recherche und Veröffentlichung geheimer Informationen [...], die sowohl wahr als auch von offensichtlichem und wichtigem öffentlichem Interesse sind.” Höher hätte der Preis für ihn nicht sein können, wie es einer von Assanges Anwälten während der Anhörungen vor dem britischen High Court im Februar formulierte, das darüber entscheiden wird, ob der WikiLeaks-Gründer an die USA ausgeliefert wird. 

Für Fazi geht es bei der Geschichte von Assange „um viel mehr als nur einen Mann, nämlich darum, ob man in einer Gesellschaft leben will, in der Journalisten die Verbrechen der Mächtigen aufdecken können, ohne Angst haben zu müssen, verfolgt und inhaftiert zu werden. Wenn der britische Staat zulässt, dass Assange an die USA ausgeliefert wird, versetzt er nicht nur einem Mann einen potenziell tödlichen Schlag, sondern der Rechtsstaatlichkeit selbst.”


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Eine weitere aktuelle Gerichtsverhandlung im Vereinigten Königreich könnte weitreichende Folgen für Recht und Gerechtigkeit haben. Es handelt sich um den Antrag der britischen Ex-IS-Kämpferin Shamima Begum auf Rückkehr in ihre Heimat, nachdem sie mehr als fünf Jahre in einem syrischen Gefangenenlager verbracht hat. Am 23. Februar lehnten drei Richter dieses Gesuch einstimmig ab, wie Dan Sabbagh in The Guardian berichtet

Begum war 2015 im Alter von 15 Jahren nach Syrien gereist, um sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Als Innenminister Sajid Javid beschloss, Begum 2019 die britische Staatsbürgerschaft zu entziehen, hatte diese Entscheidung jedoch nicht dazu geführt, dass die junge Frau staatenlos wurde, da sie die bangladeschische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Da dieser Anspruch nun aber erloschen ist, ist Begum jetzt staatenlos.

Dies steht allerdings im Widerspruch zur geltenden britischen Gesetzgebung, wie der Schriftsteller und Anwalt David Allen Green in Prospect erklärt. „In den einschlägigen Rechtsvorschriften heißt es ausdrücklich, dass der Innenminister nicht anordnen darf, einer Person die britische Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn dies dazu führt, dass sie dadurch staatenlos wird. Trotzdem wird Begum weiter in einem syrischen Flüchtlingslager festgehalten, ohne die Rechte und Privilegien der Staatsbürgerschaft des Vereinigten Königreichs oder eines anderen Landes zu genießen."

Die Proteste gegen die Ablehnung von Begums Berufung kommen nicht nur aus liberalen oder progressiven Kreisen. Auch viele britische Konservative sind beunruhigt über die Auswirkungen des Falles, darunter Peter Hitchens, der in der Daily Mail von „Pöbeljustiz” und „Bestrafung ohne Gerichtsverfahren” spricht

Für den konservativen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, der im Spectator schreibt, untergräbt das Urteil die Verfassung. „Die Entscheidung, Begum die Staatsbürgerschaft zu entziehen, ist falsch, weil sie zwei Grundpfeiler der Verfassung, die uns alle schützen, angreift", schreibt Rees-Mogg. "Der erste Grundsatz, gegen den verstoßen wird, ist die Idee der Gleichheit aller britischen Bürger vor dem Gesetz. Die Möglichkeit, Menschen, die einen Anspruch auf eine andere Staatsbürgerschaft haben, ihren britischen Pass zu entziehen, schafft zwei Kategorien von Briten. [...] Der andere Grundsatz, der ignoriert wurde, ist das Recht auf ein Gerichtsverfahren.” 

Mit Ausnahme von Hitchens, der zu glauben scheint, dass Begums Unglück das Ergebnis jugendlicher Naivität ist, verteidigt keiner der oben genannten Autoren die ehemalige IS-Kämpferin selbst. Sie kritisieren, dass es sich - wie im Fall Assange - um eine Entscheidung handelt, die schwerwiegende Folgen für die Rechtsstaatlichkeit haben könnte. „Der IS war der Inbegriff des Bösen”, schreibt Rees-Mogg, „und seine Anhänger verdienen es, gejagt und verfolgt zu werden. Doch wenn wir dabei die Rechtsstaatlichkeit vergessen und sie zur Willkür machen, dann verteidigen wir unsere Werte nicht, sondern geben sie auf.”

Seit dem Ende des Bodenkriegs gegen den IS in Syrien vor mehr als vier Jahren müssen westliche Länder ihre Bürger, die sich der Terrororganisation angeschlossen haben, zurückführen. Obwohl dieses Vorgehen nie infrage stand, hat Großbritannien besonders lange gezögert, britische Staatsbürger zurückzubringen. „Mit der Rückführung von nur zwei Erwachsenen und etwa 15 Kindern ist Großbritannien eine Ausnahme”, schreibt Haroon Siddique in The Guardian. Von Großbritanniens Verbündeten im Krieg gegen den IS hat Frankreich beispielsweise mehr als 160 Kinder und über 50 Frauen zurückgeführt, während Deutschland fast 100 Frauen und Kinder wieder aufgenommen hat.”

Die Rückführung von Islamisten - oder auch die Verweigerung ihrer Rückführung - scheint für Politiker wie Sajid Javid eine Gelegenheit zu sein, das Gesetz zu nutzen, um „ein Exempel zu statuieren.” Und das gilt auch für ihre Abschiebung. 

Ende Februar hat Frankreich den Imam Mahjoub Mahjoubi in sein Heimatland Tunesien abgeschoben, nachdem ein Video aufgetaucht war, in dem er den „Hass auf Frankreich” und auf die jüdische Gemeinschaft predigt. Mahjoubi hatte seit 1986 in Frankreich gelebt, wo er eine Frau und fünf Kinder hat. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin behauptete umgehend, dass die schnelle Abschiebung auf das kürzlich eingeführte Einwanderungsgesetz zurückzuführen sei. Wie Julia Pascual in Le Monde berichtet, gab es jedoch bereits vorher schon alle notwendigen rechtlichen Mittel, um den Prediger abzuschieben.  

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