Nun, da die Finanzkrise in Europa halbwegs abgewendet scheint, kommen vorsichtig Ideen über die Zukunft der Europäischen Union ans Tageslicht. Vor allem in Deutschland ist die Debatte heftig in Gang gekommen.
Angela Merkel will den Vertrag von Lissabon durch eine „umfassende Strukturreform“ ersetzen. Und der deutsche Außenminister Guido Westerwelle bricht eine Lanze für eine neue „europäische Verfassung“ mit starken supranationalen Elementen. Die EU-Abgeordnete Sophie in 't Veld [Mitglied der linksliberalen niederländischen Partei D66], spricht sich im Volkskrant ebenfalls für eine „starke politische Union aus“ und plädiert für die Abschaffung der „lähmenden Vetorechts“, sowie für die Direktwahl des Präsidenten der EU-Kommission.
Krisenkonzepte aus der Mottenkiste
Bekannte Rezepte aus der Mottenkiste des Föderalismus. Allerdings ist es wirklich Zeit, die Kiste vom Dachboden zu holen. Denn Deutschland hat im Laufe der Finanzkrise gezeigt, dass sein wirtschaftliches und politisches Gewicht für Europa gut sein kann und einige Prinzipien der europäischen Integration aus der Nachkriegszeit weitgehend veraltet sind.
Dies gilt zunächst für die Idee, dass die europäische Integration notwendig sei, um Deutschland unter Kontrolle zu halten. Das war in der Nachkriegszeit zweifellos ein legitimes Motiv, aber die Aufsicht über Deutschland mittels (supranationaler) europäischer Institutionen lag vor allem im wirtschaftlichen Interesse Frankreichs.
Die europäischen Verträge sollten im gemeinsamen Binnenmarkt die französische Landwirtschaft und Industrie vor deutschen Exporten abschirmen. Jahrzehntelang fungierte die schuldbewusste Bundesrepublik unter dem (moralischen) Druck Frankreichs als Zahlmeister der Union.
Im Zuge der Finanzkrise wurde sehr deutlich, dass es heute die Regierungschefs sind, die in Brüssel den Ton angeben. In der europäischen Hierarchie ist der Europäische Rat die Führung der EU und Herman Van Rompuy dessen Generalsekretär. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso ist der stellvertretende Exekutiv-Sekretär.
Es wäre in wenig befremdlich, diesen über eine Direktwahl zu bestimmen, wie es die Neo-Föderalisten in Straßburg und Berlin fordern. Logischer wäre es, die Macht des Europäischen Rats zu stärken, wenn auch mit mehr Garantien für die kleinen Länder.
Demokratiedefizite in Italien und Frankreich
Eine „politische Union“ klingt attraktiv, aber sie vereint auch zwangsläufig die schwächeren Länder, die im Kampf gegen Bestechung und Korruption, sowie in Fragen des Pluralismus, der Offenheit und Pressefreiheit zu wünschen übrig lassen.
Frankreich und Italien zum Beispiel, nach Deutschland die zwei größten Volkswirtschaften der Eurozone, verdienen laut der renommierten amerikanischen NGO Freedom House den Titel „flawed democracies“ (fehlerhafte Demokratien). Sie seine keine vollwertigen Demokratien. Italien sei wegen des Interessenkonflikts [unter Berlusconi] zwischen Regierung und Medien nur „teilweise frei“ und befände sich in dieser Hinsicht mit Bulgarien und Rumänien — beide ebenfalls EU-Mitglieder — in derselben Riege wie Indonesien oder Bangladesch.
In diesem Punkt liegen die Niederlande deutlich über den europäischen Durchschnitt. Die Niederlande, laut Freedom House, verfüge unter den siebzehn Staaten der Eurozone über die beste parlamentarische Demokratie (eine Studie aus dem Jahr 2010, also unter Berücksichtigung des Populisten Geert Wilders).
Für Den Haag ist es also nicht sonderlich attraktiv, in Brüssel die Macht mit Ländern zu teilen, die hinsichtlich Demokratie, Regierung und Verwaltung offensichtlich schlechter sind, als wir selbst. Solange es nur um Handel oder die Rezeptur von Schokolade geht, ist das kein unüberwindbares Hindernis.
Aber es ist natürlich eine andere Sache, wenn in einer echten politischen Union demokratisch schwächere Mitgliedsstaaten über eine Mehrheit verfügen und über Steuern, Staashaushate oder Renten entscheiden sollen. Ganz zu schweigen von unseren nationalen Lieblingsthemen wie Euthanasie und anderen.
Die deutsche Katharsis
In Berlin wird man sich bewusst, dass Deutschland eine Führungsrolle spielen kann und muss. Ulrike Guérot vom Think Tank „European Council on Foreign Relations“ spricht in diesem Zusammenhang von einem „deutschen Erwachen“ oder sogar einer „Katharsis“.
Aber sie wagt noch nicht, die logische Schlussfolgerung zu ziehen: eine solche Führungsrolle verlangt einen anderen Ansatz in der europäischen Zusammenarbeit, mit weniger föderalen Elementen und mit der Bündelung der Kräfte jener Staaten, die am qualifiziertesten sind, um in einer offenen Weltwirtschaft zu bestehen.
Die politische Gestaltung der künftigen europäischen Zusammenarbeit darf nicht länger Geisel der deutschen Vergangenheit sein. In Straßburg und Berlin sollte man aufwachen, um sich dessen bewusst zu werden.
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