investigation Nachrichten Die Impfung der Unsichtbaren | Italien

Impfungen und Impfbescheinigungen? Für Geflüchtete ohne Papiere in Italien schwer zu bekommen

Fehlende Daten, keine klaren und verbindlichen Vorgaben, welche Dokumente man braucht, und kein eigenes Budget: Italiens Leistung beim Zugang zu Corona-Impfungen für Menschen ohne Papiere, die keine Staatsbürger sind, wird von Lighthouse als „verwirrend“ eingestuft.

Veröffentlicht am 12 April 2022 um 13:04

„Zunächst dachte ich, die würden an uns Versuche durchführen, und wollte nicht geimpft werden“, sagt Katy. „Aber dann wurde mir klar, dass es für mich und meine Familie notwendig ist.“ 

Wir befinden uns in einem der riesigen Filmstudios der Cinecittà nahe Rom, wo einige der legendärsten italienischen Filme gedreht wurden. 2021 wurde daraus ein Corona-Impfzentrum, deshalb ist Katy (nicht ihr richtiger Name) nicht für ein Vorsprechen hier, sondern um ihr Leben wieder etwas normaler zu gestalten. „Ich kann es kaum erwarten, den grünen Pass [die italienische Impfbescheinigung] in Händen zu halten, wieder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und Arbeit zu suchen“, sagt die dunkelhaarige Peruanerin. Sie möchte den stillen Fluren und überfüllten Zimmern ihrer Unterkunft in einem besetzten Haus an der Via Sambuci entkommen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Seit dem Beginn der Pandemie hat sie sich nur in ihrer 30 m2 großen Wohnung aufgehalten, in der sie mit drei Kindern, ihrem Mann, ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter lebt. 


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Für das italienische Gesundheitsministerium existiert sie gar nicht – zumindest nicht mit den Daten, die für ihre Impfung verwendet wurden. Da sie keine Aufenthaltspapiere hat, hat Katy ihre Impfung mit einer STP-Nummer gebucht (STP = straniero temporaneamente presente/vorübergehend ansässige ausländische Person). Das ist eine Art temporäre Krankenversicherungskarte, die sechs Monate lang gilt. Sie soll den allgemeinen Zugang zum Gesundheitswesen gewähren, der in der italienischen Verfassung verankert ist – selbst für Migranten ohne Papiere und egal wie lange man in Italien ist. 

2020 hat Katy ihr drittes Kind geboren, diesmal in Italien. Durch ihre Mutterschaft erhielt sie eine Aufenthaltsgenehmigung und damit eine Steuernummer. Dieses sechs Monate gültige Stück Papier ist „das einzige offizielle Dokument, das ich in meinen über vier Jahren in Italien besessen habe“, sagt sie.

Als der Aufenthaltstitel auslief, verlor sie ihren Status als Immigrantin, obwohl ihre zwei Kinder zur Schule gehen und sowohl sie als auch ihr Mann arbeiten. Die einzige Möglichkeit, an eine Impfung zu kommen, war die STP-Nummer. Aber in der nationalen Gesundheitsdatenbank war ihr Name noch immer mit der Steuernummer aufgelistet, die sie nach der Geburt ihres Kindes bekommen hatte. Die beiden Datensätze passten nicht zusammen. Es dauerte vier Monate, von September 2021 bis Januar 2022, bis sie endlich ihre Impfbescheinigung erhielt – und es funktionierte nur mit Unterstützung der humanitären Organisation Intersos. 

Katy ist mit diesen Schwierigkeiten aber bei weitem nicht allein. Humanitäre Hilfskräfte, medizinisches Personal und Staatsbedienstete bestätigen, dass der Zugang zur Impfung für die die mehr als 500.000 ausländischen Personen ohne offiziellen Status in Italien (die ISMU-Stiftung gibt die Zahl für Januar 2020 mit 517.000 an) ein Hindernislauf war und bis heute ist. Gleiches gilt für die Impfbescheinigung, ohne die man seit August 2021 keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen hat. 

Lighthouse Reports, eine europäische Organisation für investigativen Journalismus, sammelte und analysierte sechs Monate lang öffentliche Dokumente, um die Transparenz von staatlichen Leitlinien, Datenschutzbestimmungen und Voraussetzungen für den Zugang zur Impfung für Millionen Personen ohne offiziellen Aufenthaltstitel in 18 europäischen Ländern zu bewerten. 

In ihrem Bericht wird Italien wegen fehlender Daten, fehlender klarer und verbindlicher Vorschriften, welche Dokumente für eine Impfung erforderlich sind, und wegen des Fehlens eines speziellen Budgets für die Impfung von Personen ohne Papiere als „verwirrend“ eingestuft. Nur Portugal, die Niederlande, Irland, Frankreich und Großbritannien erhielten die Note „offen und zugänglich“, während die Slowakei, Polen und die Tschechische Republik als „verschlossen und ausgrenzend“ eingestuft wurden.

Die NGO Intersos bietet medizinische Dienstleistungen für Menschen wie Katy, die vom nationalen Gesundheitswesen ausgeschlossen sind. Ihr medizinischer Koordinator Alessandro Verona meint: „Die Hilfsmittel waren da, aber entweder fehlte die Bereitschaft, sie zu nutzen, oder die Maßnahmen wurden zu spät ergriffen“. Er zitiert das Institut für Gesundheit, Migration und Armut, eine Zweigstelle des Gesundheitsministeriums, aus einem Dokument, das schon 2020 veröffentlicht wurde. Es enthielt Leitlinien für die Verwaltung von Anlaufstellen für Menschen, die unter akuter sozialer und medizinischer Ausgrenzung leiden. Laut Verona blieben diese Leitlinien aber „weitgehend unbeachtet“.

Erst gegen Ende August 2021 – acht Monate nach dem Beginn der Impfkampagne – schrieb der damalige Sonderkommissar für den Corona-Notstand, Francesco Paolo Figliuolo, die Regionen und Provinzen an und forderte sie auf, „Menschen in einer besonderen Notlage oder die aktuell keine nationale Krankenversicherungskarte besitzen“ anhand des STP, der temporären Krankenversicherungsnummer für undokumentierte Ausländer aus Nicht-EU-Staaten, zu impfen. Aber selbst in diesem Schreiben wurden keine eindeutigen Kriterien für den Zugang zu Impfstoffen und Impfbescheinigungen festgelegt. 

„Was wir brauchen, ist ein einheitliches Konzept. Stattdessen wurde alles den Lokalbehörden überlassen, was zu einem Mischmasch aus guten Verfahren und Diskriminierung führte“, so Verona. Seiner Meinung nach wurde die Kluft zwischen den Behörden und den bereits marginalisierten Gruppen durch das Fehlen kultureller Mediatoren in medizinischen Einrichtungen und Impfbuchungs-Plattformen, die oft komplex und nur in Italienisch zur Verfügung standen, noch verbreitert. 

Die Erfahrungen, die Katy gemacht hat, sind in ihrer Nachbarschaft bei Weitem kein Einzelfall. 2020 konnte Elizabeth (50) aus Ecuador ihre Aufenthaltsgenehmigung für die Berufsausübung nicht verlängern, weil eine Klausel in einem Gesetz von 2014 Menschen die Anmeldung verbietet, die in einem illegal besetzten Gebäude leben. Das winzige Zimmer, in dem sie seit acht Jahren wohnte, wurde nicht mehr als Wohnsitz anerkannt. So wurde sie zu Beginn der Pandemie zur illegalen Einwanderin, obwohl sie jahrelang als Haushaltshilfe, Barkeeperin und Putzfrau gearbeitet hatte, und konnte ihre Aufenthaltserlaubnis erst im Dezember 2021 erneuern.

Erst nach Monaten der bürokratischen Unsicherheit – und nachdem sie zwei Mal in einem Raum des besetzten Hauses, der für positiv Getestete reserviert ist, eine Quarantäne wegen einer Coronainfektion abgesessen hatte – konnte sie sich impfen lassen. Der Gesundheitsdienst am Ort hatte sie mehrfach abgewiesen. Man sagte ihr, sie solle ihre Krankenversicherungskarte erneuern lassen – aber die hing an der (noch immer ausstehenden) Aufenthaltsgenehmigung. Ihre Erstimpfung erhielt sie dann im Oktober 2021. 

2020 trat eine Amnestieregelung für ausländische Beschäftigte ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in Kraft, die die Land- und Forstwirtschaftsministerin Teresa Bellanova als „historische Errungenschaft“ gepriesen hatte. 207.000 Menschen stellten einen entsprechenden Antrag – und viele von ihnen mussten ähnlich lange wie Elizabeth auf eine Impfung waren. Anfang November 2021 waren bei 70.000 eingegangenen Anträgen nur 27.000 Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt worden. 

Lubomira (58) aus der Ukraine wartet nun schon seit fast zwei Jahren auf eine Aufenthaltserlaubnis. Sie lebt in einem Viertel Roms, in dem vor allem die Mittelschicht ansässig ist. Abends pflegt sie die 81-jährige Hausbesitzerin und tagsüber arbeitet sie als Putzfrau in anderen Wohnungen in der Stadt. Aktuell telefoniert sie jeden Abend mit ihrem dreißigjährigen Sohn, der sich noch immer in der Westukraine aufhält.

Von Oktober bis Anfang Februar war sie jedoch mehr oder weniger in ihrer Wohnung eingesperrt. „Die Kommunalbehörden teilten mir mit, ich bräuchte für die Impfung eine Steuernummer. Die temporäre Nummer, die ich vom Finanzamt nach meinem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis 2020 erhalten hatte, akzeptierten sie aber nicht.“ Obwohl sie formalrechtlich seit Beginn der Bearbeitung ihres Antrags auf Aufenthaltserlaubnis eine reguläre Einwanderin ist, konnte sie sich erst im Januar 2022 – mit einer STP-Nummer – impfen lassen. 

Paolo Parente ist der Leiter von Roma 1, einem lokalen medizinischen Dienst, der sich um ein Drittel der Einwohner der italienischen Hauptstadt kümmert. Er räumt ein: „Es gab einige Hindernisse, vor allem mit der Ausstellung von Impfbescheinigungen.“ Als Grund nennt er allerdings den anfänglichen Mangel an „rechtlichen Vorgaben zur Impfung dieser Gruppen von Menschen.“ Er sagt, Roma 1 habe diese Schwierigkeiten überwunden, indem man „zivilgesellschaftliche Organisationen involviert und spezielle Impfzentren eröffnet“ habe. 

Seit 20. Februar 2022 sind in dem Bereich, den Roma 1 abdeckt, 7125 Menschen mit STP-Nummer geimpft worden – Daten auf nationaler Ebene gibt es nicht. Das Gesundheitsministerium hat auf Fragen unseres Journalistennetzwerks nicht geantwortet. 

In der Lombardei – der Region, die von der Pandemie am schlimmsten betroffen war – wurden nur 33.000 Menschen mit STP-Nummern geimpft. Dort tätige Organisationen berichten, den Regionalbehörden mangele es an politischem Willen. „Ohne zivilgesellschaftliches Engagement hätte keine geflüchtete Person ohne Papiere in der Lombardei eine Impfung erhalten, und einen grünen Pass schon gar nicht“, so Anna Spada von Naga, einer Freiwilligenorganisation, die Menschen aus dem Ausland ohne Aufenthaltserlaubnis und Obdachlose in Mailand unterstützt. „Wir haben Menschen, die bereits am Rande der Gesellschaft leben, beim Überwinden absurder bürokratischer Hürden geholfen.“ 

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