Interview Krieg in der Ukraine

Experte Anatoli Kotow: „Die Deportation ukrainischer Kinder nach Belarus ist eine Win-Win-Situation für Lukaschenkas Regime“

In diesem Interview mit Natalia Sever erklärt der Politikwissenschaftler Anatoli Kotow, warum die belarusischen Behörden im Rahmen der Zusammenarbeit von Minsk mit der Deportationspolitik des Kremls weiterhin Kinder aus der Ukraine zur „Genesung” nach Belarus bringen.

Veröffentlicht am 14 November 2023 um 15:38

Während gegen einige prominente russische Persönlichkeiten wie Wladimir Putin selbst vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen der illegalen Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine ermittelt wird, bringen die belarusischen Behörden weiterhin ukrainische Kinder [die von russischen Truppen entführt wurden] von dort nach Belarus und haben dafür sogar eine PR-Kampagne organisiert.

Gleichzeitig hat jeder gesehen, wie wütend der belarusische Präsident Aleksandr Lukaschenka wird, wenn man auch nur mit dem IStGH droht.

Gazeta.by hat Anatoli Kotow um einen Kommentar zu dieser Situation gebeten:

„Das Regime folgt natürlich keiner selbstmörderischen Logik, sondern reagiert sehr spontan“, sagt Kotow: „In diesem Fall wurde kein Haftbefehl ausgestellt, und die einzige Reaktion auf frühere Ankünfte ukrainischer Kinder in Belarus war Besorgnis. Es ist also in Ordnung, sie ins Land zu bringen.“

„Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt dabei, diese Kinder zur ‚Genesung‘ nach Belarus zu holen“, fügt er hinzu: „Das Projekt bringt finanziellen Gewinn mit sich. Aus dem Haushalt des sogenannten Unionsstaates [Russland und Belarus] wurden große Summen dafür bereitgestellt. Die Situation, in der wir uns derzeit befinden, sieht also folgendermaßen aus: Wir wurden nicht bestraft, und wir haben sogar etwas Geld verdient – es handelt sich um eine Win-Win-Situation.“

Gazeta.by: Fragt sich wirklich niemand, was passieren würde, wenn der IStGH einen Haftbefehl gegen Lukaschenka ausstellen würde?

Anatoli Kotow: Das Problem ist, dass ab 2020 alle, die zur Analyse fähig waren, ihres Amtes enthoben wurden. Die Ereignisse, die in Belarus stattgefunden haben und immer noch andauern, lassen sich durch genau dieselbe Logik des unmittelbaren Augenblicks erklären: Wir erwirtschaften etwas Geld und werden nicht bestraft, warum sollen wir nicht weitermachen?

Was den Haftbefehl für die Deportation von Kindern betrifft, so scheint das Regime die internationale Strafverfolgung ernst zu nehmen, ist jedoch überzeugt, dass es keine ausreichenden Gründe für einen Haftbefehl im Zusammenhang mit der Deportation gibt. Die Tatsache, dass ein Haftbefehl gegen den belarusischen Staatschef ausgestellt werden könnte, betrachten sie als eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit.

Mit anderen Worten gab es bereits vor April 2023, als die ersten Informationen und Beweise für eine belarusische Beteiligung ans Licht kamen, Gründe für die Ausstellung eines Haftbefehls. Schon vorher wurden Kinder nach Belarus gebracht.

Trotz aller Beweise wurde jedoch bisher kein Haftbefehl gegen Lukaschenka erlassen. Das muss bedeuten, dass es nicht nur darum geht, ob es genügend Gründe gibt oder nicht, sondern auch um den politischen Willen, dies zu tun.

Die belarusische Seite könnte sich die Situation möglicherweise so erklären: Wir helfen Russland, aber wir befinden uns nicht im Krieg und haben daher keine roten Linien überschritten, die sonst zu einer solchen politischen Entscheidung führen könnten.


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Die einzige Person, die in dieser Geschichte – relativ gesehen – gelitten hat, ist der Leiter des belarusischen Roten Kreuzes, Dmitri Schewzow, gegen den der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba beim Internationalen Strafgerichtshof einen Haftbefehl beantragt hat. Bislang hat Schewzow nicht so sehr wegen der Kinder ‚gelitten‘, sondern weil er das ‚Z‘-Symbol [das die russische Besatzungsarmee in der Ukraine trägt] gezeigt hat. 

Deshalb bin ich der Meinung, dass sich das belarusische Regime innerhalb des Systems, das es selbst geschaffen hat, sehr rational verhält. Dass es sich eines Tages für seine Taten verantworten muss, ist eine ganz andere Sache.

Das Problem ist, dass es bereits seit den Ereignissen von 2020 und in gewisser Weise seit Ende der neunziger Jahre von Tag zu Tag lebt.

Mit Ausnahme des jüngsten Prozesses gegen Juri Garawski [ein Mitglied der belarusischen Spezialeinheit, die für die Ermordung zweier prominenter Oppositionspolitiker und eines Geschäftsmannes im Jahr 1999 verantwortlich ist und dessen Prozess in der Schweiz nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit stattfand] muss sich derzeit niemand für das verantworten, was getan wurde. Niemand ist im Ausland bestraft, inhaftiert oder verhaftet worden. Es wurden zwar einige Beschränkungen für Geschäftsbeziehungen eingeführt, im derzeitigen Kontext ist das jedoch nicht mehr als ein Mückenstich.

Es werden aber weiterhin Dokumente und andere Elemente gesammelt, die die Verbrechen des Lukaschenka-Regimes an den Kindern der Ukraine und an den Belarusen selbst belegen.

Das ist in der Tat der Fall, auch wenn es dem Regime bisher keine Schwierigkeiten bereitet hat. Es werden auch nach wie vor Menschenrechtsverletzungen und Folter in Belarus erfasst.

Die Vertreter des Regimes wissen ganz genau, dass alles, was sie tun, aufgezeichnet und dokumentiert wird. Außerdem werden die Informationen, die das Regime selbst generiert, viel wertvoller sein.

In Belarus werden Tagebücher auf Papier und in elektronischer Form geführt. Es gibt Zeug*innen, die sich an all diesen Aktivitäten beteiligen. Viele Menschen verwahren auch Material voneinander getrennt, nur für den Fall, dass es einen Regierungswechsel gibt. Dies sind bekannte Tatsachen.

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