Jeroen Dijsselbloem, der Euro Doktor

Ist er in der Lage die Wirtschaftsunion zusammenzuhalten und ein griechisches Drama zu vermeiden? Da Jeroen Dijsselbloem sehr wahrscheinlich als Präsident der Eurogruppe wiedergewählt werden wird, untersucht Vrij Nederland seine Karriere und den Stil des niederländischen Finanzministers.

Veröffentlicht am 18 Juni 2015 um 21:26

Dijsselbloem ist jetzt seit über zwei Jahren am Ruder der Eurogruppe. Er verfügte über keinerlei internationale politische Erfahrung, als er überraschend im Zentrum der europäischen Politik landete. Sein Vorgänger als Vorsitzender der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, ein Veteran des europäischen Politbetriebs, war für seine schwammige Sprache, Hinterzimmerpolitik und lange nächtliche Besprechungen bekannt. Dijsselbloem hat seit seiner Ernennung einiges ganz anders gemacht. Er lässt Besprechungen ganz selten ausufern. Er unterbricht langwierige Diskurse seiner Ministerkollegen. Er betont die Verpflichtung, sich an Vereinbarungen zu halten. Und er verwendet klare, eindeutige Sprache.
Seine geradlinige Sprache war die größte Umstellung, an die sich Brüssel gewöhnen musste. Dijsselbloems Ehrlichkeit hat sogar zu einem internationalen Aufruhr während seiner ersten großen Belastungsprobe geführt, der Handhabung der Zypernkrise. Im März 2013 hat er in einem Interview mit der Financial Times zugegeben, dass eine der Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise in Zypern darin bestehe – dass Sparer auch ihren Anteil zu der Bankenrettung beisteuern müssten – dies könnte als Blaupause für andere Länder der Eurozone dienen.

Er wurde von Vorwürfen überschwemmt, er habe die Finanzmärkte verbal bombardiert. Letztlich kam es dann doch nicht so schlimm, wie befürchtet, aber seine Aussage verfolgte ihn noch lange Zeit. „Dijsselbloem spricht die Dinge ziemlich deutlich aus“, sagt Peter Spiegel, Brüsseler Büroleiter der Financial Times, dem gegenüber Dijsselbloem den Blaupausen-Ausspruch gemacht hatte. „Er sagte unbeabsichtigt die Wahrheit. Das ist seine Art. Er ist das Gegenteil von Juncker, der früher sagte: ‚Lügt, wenn’s knifflig wird.’“
Letztes Jahr entfachte Dijsselbloems Offenherzigkeit erneut einen internationalen Sturm als er im niederländischen Fernsehprogramm Knevel & Van den Brink eben jenen Jean-Claude Juncker einen „eingefleischten Esser und Trinker“ nannte. Dieser Ausspruch verbreitete sich weltweit. Juncker, der gerade seine Kandidatur um das Präsidentenamt für die Europäische Kommission angekündigt hatte, musste gezwungenermaßen öffentlich erklären dass er „kein Problem mit Alkohol hat.“ 

Kleine Bussis

Dijsselbloem glaubt nicht, dass sein Kommentar sein Verhältnis mit Juncker für alle Zeiten beschädigt hat. „Es war ein verunglückter Witz, der Jean-Claude eine Menge Ärger eingebracht hat. Ich habe mich zwei Mal bei ihm entschuldigt, erst am Telefon, später bei einer Tasse Kaffee. Damit sollte die Angelegenheit beigelegt sein, und man kann es nicht ewig breittreten.“ In der Zwischenzeit, sagt Dijsselbloem, sei sein Verhältnis mit Juncker „gut“. „Wir telefonieren beinahe wöchentlich, um uns in Sachen Griechenland auf dem Laufenden zu halten. Wenn wir uns treffen, umarmt er mich jedes Mal und gibt mir kleine Bussis.“ Er grinst und ergänzt: „Anscheinend macht er das mit allen.“

Damit es einem in der Brüsseler Stratosphäre gut ergeht, muss man das politische Spiel einwandfrei mitspielen. Der Präsident der Eurogruppe muss mit gegensätzlichen Spielern aus siebzehn Nationen umgehen, mit vielen kulturellen Unterschieden, sogar großen Egos, alten Feindschaften und Hintergedanken. Häufig in schlechtem Englisch, muss diese bunte Truppe zu einer Einigung kommen.

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Prinzipiell werden alle Entscheidungen einstimmig beschlossen, was bedeutet, dass derjenige, der am lautesten „nein“ sagt, einen großen Einfluss ausübt. Als Präsident ist es an Dijsselbloem zu bewerten, ob es sich um ein taktisches Nein handelt – zur Festigung einer besseren Verhandlungsposition – oder um eine ideologische und unverrückbare Position. Brüsseler Insidern zufolge hat Dijsselbloem den Dreh raus. „Seine größte Leistung“, sagt Peter Spiegel, „ist, dass die Eurogruppe niemals zuvor derart geeint war wie jetzt unter seiner Leitung.“

Lakai der Deutschen

Dezember 2012. Bei dem dritten Treffen der europäischen Finanzminister, an der Dijsselbloem als Minister der Regierung teilnimmt, hört er, dass Wolfgang Schäuble, der französische Finanzminister Pierre Moscovici, EZB-Vorstand Mario Draghi und EU-Kommissar Michel Barnier sich in einem separaten Raum treffen, um die Bildung einer Bankenunion zu besprechen. Er entscheidet sich, einzutreten. Sie sind sprachlos: Was glaubt dieser niederländische Emporkömmling eigentlich, wer er ist? Aber sie schicken ihn nicht weg. Es wird noch ein Stuhl für ihn geholt. Er macht mehrere Stunden lang mit, spricht darüber, wie die Krise bekämpft und wie die Währungsunion gerettet werden können.

In den darauffolgenden Wochen verbreitet die deutsche Fraktion das Gerücht, dass Dijsselbloem möglicherweise ein geeigneter Nachfolger für Juncker sei. Dijsselbloem macht eine Geste, dass er das für verrückt hält, als er von seinen Mitarbeitern davon hört; er weigert sich zu glauben, dass es sich um eine ernstgemeinte Idee handelt. Aber bei der nächsten Besprechung nominiert ihn Wolfgang Schäuble persönlich als favorisierten Kandidaten. Die anderen haben keine Einwände dagegen. Einige Wochen später kann er seinen neuen Job antreten.

„[[Wolfgang Schäuble hat Dijsselbloem erfunden]]“, sagt einer der Angestellten des deutschen Ministers. „Er hat ein beinahe väterliches Verhältnis zu ihm.“ So fühlt sich das auch für Dijsselbloem an. „Schäuble ist ein erfahrener Politiker. Er ist ein großartiger Verhandlungsführer. Wenn Sie ihn erst mal kennen, ist er auch witzig. Es bereitet ihm ein diebisches Vergnügen, das immer von einem Lächeln begleitet wird, Menschen gegen sich aufzubringen. Er ist ein Schelm.“

Die starke Verbindung zwischen den beiden hat auch eine Kehrseite: Ab dem Zeitpunkt, als Dijsselbloem nach seiner Nominierung durch Schäuble zum Präsidenten ernannt wurde, wurde er als Lakai der allmächtigen Deutschen bekannt, insbesondere in den südlichen Ländern. Und die sparsamen Niederländer haben bereits den Ruf weg, Deutschlands stärkste Verbündete bei der Durchsetzung der sakrosankten Haushaltsvorschriften zu sein. Die Medien haben ihn als „Schäubles Lakai“ bezeichnet und als „Clogs tragenden Deutschen“.
Allerdings wissen Insider zu berichten, dass Dijsselbloem auch ab und an mal gegen die Deutschen Partei ergreift. Beispielsweise entschied er sich im Januar, direkt nach dem Wahlsieg der radikalen Linkspartei Syriza nach Athen zu reisen – gegen Schäubles Wunsch.

Dijsselbloem ist das Gesicht der Eurogruppe, aber der Löwenanteil seiner Arbeit findet hinter den Kulissen statt, in persönlichen Besprechungen und Telefonaten mit Kollegen und der politischen Führung. Er stützt sich sehr auf seine Brüsseler Mitarbeiter – die Arbeitsgruppe der Eurogruppe wird von dem Österreicher Thomas Wieser geleitet – und auf eine kleine Gruppe von erfahrenen Beamten aus dem Ressort des eigenen Ministeriums.

Der geduldige Specht

Für Thomas Wieser bleibt Dijsselbloem immer ruhig, egal, wieviele Schwierigkeiten die Minister der Eurogruppe ihm auch bereiten. „Im Auge des Sturms ist es immer ruhig“, sagt der hochrangige Beamte. „Ich habe Jeroen noch niemals wütend erlebt. Er hat unendliche Geduld. Er ist wie ein Specht, der ein Loch in eine Eiche pickt. Das ist die Dijsselbloem-Methode. Wenn der Versuch keine Lösung gebracht hat, probiert er es fünf Minuten später wieder.“

Brüsseler Insider sagen, dass sein Faktenwissen und die Begabung, kreativ zu denken, Dijsselbloem den Respekt von vielen seiner Gegner in der Eurogruppe eingebracht haben. Er sagt, dass helfe ihm auch, Unsicherheiten, die er spürt, zu überwinden. „Als ich noch im Abgeordnetenhaus saß, war das genauso. [[Ich möchte jedes kleine Bisschen wissen, ich möchte jedes Ressort beherrschen.]] Sonst bin ich unsicher, wenn ich in eine Besprechung gehe. Meine Bedenken sind: Was wäre, wenn jemand einen Vorschlag macht und ich verstehe ihn nicht.“

Als Dijsselbloem am 25. April mit Alexis Tsipras telefonierte, nachdem er von einer Besprechung der Eurogruppe in Riga zurückgekehrt war, erläutert er ihm, warum sie so nicht weitermachen könnten. Wir kommen zu langsam voran. Die Verhandlungen mit den griechischen Ministern und den Regierungsvertretern sind unstrukturiert, bruchstückhaft und unkoordiniert. Er besteht darauf, dass Tsipras die Sache wieder in die Hand nimmt.

Zwei Wochen später, nachdem die nächste Besprechung der Eurogruppe in Brüssel stattgefunden hat, kündigt Dijsselbloem auf einer Pressekonferenz an, dass zum ersten Mal seit Monaten ein Fortschritt erzielt wurde. Was noch in Riga wie ein glückloses Unterfangen aussah – eine Vereinbarung mit Griechenland vor dem 1. Juli zu erzielen, um das Land vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren – sieht jetzt wie ein mögliches Ergebnis aus. „Es sind immer noch beträchtliche Schwierigkeiten zu überwinden“, sagt er, „aber die Verhandlungen laufen jetzt effizienter und konstruktiver ab.“

Nichts ist fix

Zwischenzeitlich nähert sich Dijsselbloems erste Amtszeit dem Ende. Offiziell gilt er noch nicht als Kandidat, aber die Lobbyarbeit für seine erneute Ernennung hat bereits begonnen. Der Gegenstand seiner möglichen Kandidatur wurde auf unterschiedlichste subtile Weisen in den vergangenen Wochen im Windschatten seiner Besuche in Paris, Berlin und Rom erörtert. Seine Aussichten scheinen sich zu verbessern. Nach Brüsseler Analysten bedeutet Angela Merkels Unterstützung für den spanischen Minister De Guindos nicht, dass Dijsselbloems Chancen damit hinüber sind.

„Merkel steht in dem Ruf, Menschen, wenn nötig, fallen zu lassen“, sagt Peter Spiegel. „Nichts ist endgültig“, sagt Markus Ferber, „die Wahlen finden in Spanien im November statt. Das macht De Guindos politische Zukunft unsicher.“ Darüber hinaus stehen die Chancen gar nicht schlecht, dass die mächtigen Deutschen „keine Experimente“ in diesen schwierigen Zeiten wollen. Und dann würde die Wahl ganz schnell auf Jeroen Dijsselbloem fallen.

Copyright © 2015 Weekbladpers Tijdschriften

Deutsche Übersetzung von Karen Gay-Breitenbach, DVÜD

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