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„Jeder sollte bei sich zum Partisanen werden“: Der Widerstand in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine

Guerilla- und Sabotage-Aktionen des ukrainischen Widerstandes erschweren den russischen Truppen die Besatzung des Landes, berichtet das unabhängige ukrainische Medium Hromadske.

Veröffentlicht am 7 September 2022 um 11:34

In Cherson explodierte das Auto des russischen Funktionärs Dmytro Savluchenko, der dabei ums Leben kam. In der Nähe von Melitopol wurde eine Zugbrücke in die Luft gesprengt, die von den Russen zum Waffentransport genutzt wurde. Auf der Krim schickten Partisanen Drohbriefe an russische Soldaten und deren Frauen.

Mittlerweile ist die Widerstandsbewegung in allen von Russland besetzten Gebieten präsent.

„Die Aktivität der ukrainischen Partisanen erschwert weiterhin die Bemühungen der russischen Besatzer, ihre Kontrolle über die Gebiete zu festigen“, hieß es in einem Bericht des American Institute for the Study of War vom 20. Juni.

Washington spricht ebenfalls von einem „starken Netzwerk des Widerstandes“, das es den Russen schwer mache, eine Grundversorgung einzurichten, wie zum Beispiel die Versorgung mit Wasser oder die Abfallentsorgung. Die Direktorin des US-amerikanischen Nationalen Geheimdienstes Avril Haines sagte, der Kreml sei mit „wachsender Partisanenaktivität im Süden der Ukraine konfrontiert.“

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„Meine Stadt wurde sehr schnell besetzt. Der Widerstand dagegen fand hauptsächlich in Form von Protesten auf öffentlichen Plätzen statt. Am Anfang waren wir noch viele, aber irgendwann dachten wir, alles würde sich schon irgendwie klären und „wieder legen“. Wir bemerkten, wie die Proteste nachließen und immer weniger Menschen zu den Demonstrationen kamen. Schließlich waren dort nur noch meine Freunde, Freunde von Freunden und neue Freunde. Da haben wir beschlossen, dass es Zeit wurde, den Widerstand auf andere Weise weiterzuführen, in einer informelleren Form.“

Ein breitschultriger Mann mit Bart sitzt mit dem Rücken zur Kamera. Er erzählt, wie er sich der Widerstandsbewegung in einer der besetzten ukrainischen Städte angeschlossen hat. Aus Sicherheitsgründen nennt er weder seinen Namen noch seinen Ort. Das Video wurde auf Anfrage von Hromadske vom Zentrum für Nationalen Widerstand aufgenommen, welches den Widerstand in den besetzten Gebieten koordiniert. Hromadske gab dem Partisanen die Fragen und das Zentrum nahm die Antworten auf.

Der Mann im Video berichtet, dass seine Gruppe nach ihrem Abtauchen mit Streetart aktiv geworden ist: sie malen Slogans und pro-ukrainische Symbole auf die Straßen der Stadt und verfassen Flyer, in denen sie den Invasoren drohen oder den Ukrainern Mut machen. Die Gruppe war außerdem beteiligt an der Weitergabe von Informationen über die Bewegungen der russischen Truppen.

„Wir haben versucht, unsere Flyer und unsere Kunst entlang ihrer Patrouillenstrecke anzubringen. Wir haben ihnen gezeigt, dass sie in dieser Stadt Feinde sind. Das hat sie wirklich unter Druck gesetzt: die Patrouillen wurden verstärkt, Ressourcen reduziert, und auch auf die Kollaborateure hatte das seine Wirkung“, so der Mann.

Er fügt hinzu, dass die Widerstandsbewegung die Bürger dazu motiviert hat, ihre Unbeugsamkeit zu zeigen, insbesondere durch Sabotage-Aktionen. Seine Partisanengruppe sah später, wie sich neue Widerstandszentren in der Stadt bildeten, die ebenfalls Plakate klebten und Graffitis malten. Die Widerstandsbewegung wuchs. 

Das Gesetz über den nationalen Widerstand wurde vom ukrainischen Parlament am 27. Januar verabschiedet, kurz vor der Invasion. Die Gesetzgeber definierten, als Teil des nationalen Widerstands, die Einheiten Territorialverteidigung, Widerstandsbewegung und die Vorbereitung der Bevölkerung. Hinzu kommt die gewaltfreie Gegenaktion, zu deren Umsetzung im März ein Zentrum für Nationalen Widerstand eingerichtet wurde. Die ambitionierte Aufgabe des Zentrums: alle volljährigen Ukrainer darauf vorbereiten, den Invasoren gegenüber Widerstand zu leisten.


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Die Widerstandsbewegung wird von den Spezialstreitkräften des ukrainischen Militärs koordiniert. Dabei handelt es sich um Experten aus der Armee, die bei Kampfhandlungen in zeitweise besetzten Gebieten aktiv werden. Höchstwahrscheinlich sind sie verantwortlich für einige der Anschläge auf Transportwege und Kollaborateure der Besatzer, doch selten wird dies offiziell bestätigt. Die Informationen über ihre Arbeit unterliegen dem Staatsgeheimnis. Nur einmal wurde etwas offen gelegt, als die Leitung der Spezialstreitkräfte nach der Sprengung einer Brücke in der Südukraine von der Partisanenaktion berichtet hat.

In allen anderen Fällen können die Täter von antirussischen Angriffen oder Angriffsversuchen nicht identifiziert werden, obschon die ukrainischen Behörden manchmal die Aktivitäten der Partisanen ansprechen.

Nach dem 24. Februar wurden in allen größeren besetzten Städten Explosionen gemeldet. In Enerhodar und Melitopol versuchte die Widerstandsbewegung, die „Gauleiter“, die Anführer des russischen Militärs zu eliminieren. Ab und an sieht man Rauch über dem Hafen von Berdjansk in der Oblast Saporischschja aufsteigen. Zum Beispiel am 24. März, als die ukrainischen Streitkräfte das große Landungsschiff Saratov zum Sinken gebracht haben.

Auch Cherson ist häufig in den Nachrichten: bei Explosionen wurden der Kollaborateur und Leiter der Kolonie Nr. 90, Jewgeni Soboliew, und das Parlamentsmitglied Alexei Kowaljow verletzt. Beide waren nach Cherson gekommen, um die russische Armee zu unterstützen. Ebenfalls im Zuge eines solchen Angriffs wurde Dmytro Sawlutschenko umgebracht, der Direktor der sogenannten Abteilung für Familie, Jugend und Sport der russischen militärischen Zivilverwaltung.

„Die Widerstandsbewegung steht in stetem Kontakt mit den Sicherheitskräften, den ukrainischen Streitkräften“, sagt Iwan Fedorow, der Bürgermeister von Melitopol. „Dadurch können die Militärangriffe der ‚raschistischen Föderation‘ besser ins Visier genommen werden. Ein Hauptziel ist es, den Zugverkehr in der Russischen Föderation lahm zu legen, und damit die Lieferung von Waffen und Militärgerät zu verhindern. Und natürlich ist es immer auch Ziel, es den ‚Raschisten‘ [Zusammenzug von „Russisch“ und „Faschisten“, Anm. d. Red.] den Aufenthalt auf unserem Gebiet so unangenehm wie möglich zu machen.“

Die Partisanen in Melitopol scheinen damit ziemlich erfolgreich zu sein. Die Stadt wurde von der britischen Zeitung The Economist als inoffizielle Hauptstadt des ukrainischen Widerstandes bezeichnet. Am 3. Juli sprengten Unbekannte eine Zugbrücke zwischen Melitopol und Tokmak, die die Russen für den Waffentransport genutzt hatten. Der ukrainische Geheimdienst berichtete, dass in Melitopol 70 russische Soldaten während nächtlicher Patrouillen getötet wurden.

„Einige Indizien sprechen dafür, dass dies das Werk der Widerstandsbewegung war“, meinen Vertreter der Generaldirektion des Geheimdienstes des Verteidigungsministeriums.

Der Bürgermeister von Melitopol beschreibt die Beteiligten der Partisanenbewegung seiner Stadt aus Vorsicht nur als „Personen mit verschiedenen Kompetenzen“. Seine Zurückhaltung ist ein Resultat der russischen Repressionen. Auf jede erfolgreiche Aktion der Widerstandsbewegung folgen Verhaftungen, fügt Fedorow hinzu.

Auch in Enerhodar sind die Russen wachsamer und strenger geworden, sagt der dortige Bürgermeister Dmytro Orlow. Die Lage ist angespannt, und die Partisanenbewegung ist nicht besonders groß, denn in der Stadt sind sehr viele Besatzer und die meisten der jungen Menschen sind geflohen, so Orlow. Außerdem haben die Russen das Überwachungssystem unter ihre Kontrolle gebracht und können die Aktivitäten so leichter verfolgen.

„Dieser Druck lastet schwer auf den Widerständlern. Viele von ihnen wurden in Keller verschleppt. Man hat sie nur freigelassen, wenn sie jemand anderen denunzierten und anschließend die Familien  mit Erpresserbriefen bedroht“, sagt Orlow.

Die Explosionen lassen die Kollaborateure alles andere als kalt, das wird an ihren Reaktionen deutlich. In Cherson begannen die Kollaborateure in den Straßen schusssichere Westen zu tragen und nur noch in Begleitung von Leibwächtern hinaus zu gehen. Ein Beispiel ist Andrij Schewtschik, der von Russland eingesetzte sogenannte „Leiter der Volksverwaltung“ von Enerhodar, der bei einer Explosion am 22. Mai verletzt wurde. Nach dem Angriff arbeitete er zwar weiter, hat seitdem allerdings doppelt so viele Bodyguards bei sich. Es seien seitdem auch durchgehend Bombenexperten in seiner Nähe, so Bürgermeister Orlow.


„Unser Hauptziel ist es, dafür zu sorgen, dass ihnen der Boden unter den Füßen brennt. Und das ist uns bisher auch gelungen“ – Iwan Fedorow, der Bürgermeister von Melitopol


Jewhen Balytsky, der von Russland eingesetzte Gouverneur in Melitopol, ist nach einer Explosion in der Nähe seines Hauses am 30. Mai umgezogen, doch seine neue Adresse ist den ukrainischen Sicherheitskräften wohl bekannt.

„Jetzt haben sie Angst, ihre Wohnungen zu verlassen, und sind sehr wachsam geworden. Unser Hauptziel ist es, dafür zu sorgen, dass ihnen der Boden unter den Füßen brennt. Und das ist uns bisher auch gelungen“, sagt der Bürgermeister von Melitopol.

„Jeder sollte bei sich vor Ort als Partisan aktiv werden – ob man Reinigungskraft in einem Gebäude ist, oder Direktor einer Verwaltungsbehörde“, so sieht ein Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand seine Mission. Aus Sicherheitsgründen möchte er seinen Nachnamen nicht preisgeben. Sein Name, und auch die Namen der anderen Mitglieder der Widerstandsbewegung, seien immer nur 5 bis 10 Personen bekannt. Dies sei notwendig, damit im Falle einer Verhaftung eines Mitgliedes nicht alle anderen in Gefahr geraten.

Die Spezialstreitkräfte haben eine Website eingerichtet, auf der sie über die verschiedenen Formen des Widerstandes aufklären und den Menschen beibringen, wie sie in den besetzten Gebieten für ihre eigene Sicherheit sorgen können. 

Auf der Website wird gezeigt, wie man ein VPN benutzt, wie man sich in Gefangenschaft verhalten sollte, wie man einen russischen Panzer klaut oder ein Versteck errichtet.

Folgendes empfehlen die Spezialstreitkräfte zur Vorbereitung von Widerstandsaktionen.

  • Du solltest immer ein Alibi haben. Denke dir vorher ein Alibi aus. Es sollte simpel sein und geradeheraus gesagt werden können.
  • Starte wenn möglich Aktionen, die viele Menschen hätten tun können. Zum Beispiel die nächtliche Sabotage eines Militär- oder Transportfahrzeugs auf der Straße. Eine solche Aktion kann kaum auf dich zurückgeführt werden.
  • Zerstöre möglichst nur Dinge und Materialien, die vom Feind genutzt werden, vor allem Kraftstoff, Nahrung und Medikamente.
  • Nach der Ausführung einer Sabotage, widerstehe dem Drang, das Ergebnis aus der Nähe sehen zu wollen. Beobachter werden schnell verdächtigt. 

Das Zentrum hat einen Sabotage-Vlog auf YouTube ins Leben gerufen, auf dem gezeigt wird, wie man den Besatzern das Leben schwer machen kann. Hier ist eines der Beispiele ziviler Sabotage, die die Vorkämpfer vorschlagen: „Du arbeitest als Klempner oder als Reinigungskraft? Wenn du die Gelegenheit hattest, etwas an den Abwasser- oder Wasserrohren zu verändern, könntest du mit einem guten Grund in das Haus der Besatzer eindringen, eventuell sogar auf seine Anfrage hin. Du brauchst keinen Stolperdraht oder eine Kamera installieren – das wäre zu riskant. Kannst du dein Handy verstecken? Stelle einen Alarm mit einer Sprachaufnahme, die sagt ‚Wir werden dich töten‘ und lege es in deren Schlafzimmer. Leider ist diese Art von Aktion nur einmal durchführbar und das Telefon geht dabei verloren. Doch umso näher die Sprachaufnahme den Besatzern kommt, desto besser.“

Dem Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand zufolge ist es ihre Aufgabe, den Menschen verständlich zu machen, dass sich jeder widersetzen kann: sei es ein Klempner, ein Künstler, ein Buchhalter oder der Personalchef eines Stadtrates. Das Zentrum gebe den Bewohnern der besetzten Gebiete nur eine grobe Richtschnur an die Hand. 

„Du kannst die Räder etwas zu locker anschrauben oder kein Öl nachfüllen, damit das Auto der Besatzer liegen bleibt. Die besten Ergebnisse werden mit persönlichem Expertenwissen erreicht. Ein Klempner kann ein Rohr so manipulieren, dass es innerhalb von 4 Tagen verstopft ist, das Büro des Besatzers überschwemmt, und er bis zu den Knien in der Scheiße steht. Ein Beamter weiß, wie man fünf Treffen an einem Tag abhält, eine Raucherpause macht, mit jemandem kommuniziert und dann ein Dokument ausstellt, das noch 5 weitere Unterschriften zur Verifizierung benötigt.

All dies ist Sabotage. Wir geben Ratschläge, Grundlagenwissen und klären über Sicherheitsmaßnahmen auf: wie sich eine Person während einer Durchsuchung oder eines Gesprächs mit einem Besatzer verhalten sollte, wie das Handy aussehen sollte“, so der Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand weiter.

Gewaltfreier Widerstand

Der gewaltfreie Widerstand hat sich selbst in den Gebieten verbreitet, die schon 2014 besetzt wurden. In Donezk  gibt es pro-ukrainische Graffitis. Auf der Krim verteilen Partisanen Plakate, die eine geplante Zerstörung der Krim-Brücke andeuten oder andere Drohungen enthalten. In Jewpatorija wurde gelbe und blaue Farbe an die Außenwand eines Verwaltungsgebäudes geworfen. Und Unbekannte richteten einen Telegram-Kanal mit dem Namen „Krim – Land der ruhmreichen Partisanen” ein, in dem über den Widerstand auf der Insel informiert wird.

Der Sprecher des Nationalen Widerstandszentrums erklärt, dass der Freiheitskampf in den besetzten Städten unterschiedlich stark erscheint, aufgrund der verschieden hohen Personenzahlen. Je mehr Einwohner eine Stadt hat, desto größer ist auch die Partisanenbewegung. Deswegen wird über Cherson am meisten in den Medien berichtet.  

„Informationen aus den Gebieten, die schon seit 8 Jahren unter russischer Besatzung leben, finden schwerer den Weg an die Öffentlichkeit und auch für die Einheimischen ist es dort schwieriger, Aktionen durchzuführen. Das Polizeiregime ist schon völlig etabliert und die Gefahr deswegen schrecklich hoch. Heftige Gegenwehr gibt es jedoch in den Gebieten, die nach dem 24. Februar besetzt wurden. In Mariupol wurde es nach dem massiven Angriff der Russen zwar für eine Weile ruhig. Doch jetzt beginnen die Aktionen unserer Leute aus dem Hinterhalt. Die Menschen wissen mittlerweile besser, wie sie sich widersetzen können“, so kündigt der Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand neue Aktionen an.


„Jeder sollte bei sich vor Ort als Partisan aktiv werden – ob man Reinigungskraft in einem Gebäude ist, oder Direktor einer Verwaltungsbehörde“ – Ein Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand


Die Einwohner der besetzten Gebiete setzen ebenfalls auf Sabotage. Dem Bildungsministerium in Cherson zufolge kooperieren nur zwei von 60 Schulleitern mit den Russen. Der Großteil der örtlichen Unternehmer nimmt keine Bezahlung in Rubel an und die Hausverwaltungen geben keine Listen über die Personen heraus, die die Stadt verlassen und leere Wohnungen hinterlassen haben, berichtet der stellvertretende Vorsitzende des Regionalrates von Cherson, Jurij Sobolewski.

„In der Tat gibt es überall noch Menschen, die sich den Besatzern entgegenstellen. Vor allem halten sie den Patriotismus vor Ort am Leben: permanent werden Poster und Flyer verteilt, unsere Flagge und patriotische Graffitis öffentlich angemalt. Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn für die Aktivisten kann es sehr gefährlich werden, wenn sie von den Russen erwischt werden. Doch die Region Cherson ist jetzt extrem patriotisch. All unsere lieben Bewohner von Cherson warten hoffnungsvoll auf die Ankunft der ukrainischen Streitkräfte“, sagt Sobolewski.

In einigen Teilen der Region Saporischschja konnten die Besatzer keine aktuellen Einwohnerlisten bekommen, mit denen sie ein „Referendum“ abhalten könnten. Die Lokalbehörden hatten die Listen vorsorglich vernichtet, so der Sprecher des Zentrums für Nationalen Widerstand. Durch den massiven Widerstand in der Bevölkerung waren die Russen gezwungen, die vorgetäuschte Prozedur einer Angliederung der Gebiete an die Russische Föderation zum dritten Mal zu verschieben. Ein anderer Sprecher des Zentrums erklärt dies so: wenn der Kreml dem vor Ort eingesetzten General im Frühling die Abhaltung eines „Referendums“ befiehlt, und es wieder nicht durchgeführt werden kann, wird Moskau den General dafür zur Verantwortung ziehen. Damit wird der Vorgang verzögert, die Moral der Russen untergraben und das Pseudo-Referendum erneut verschoben.

„Natürlich ist es für sie unangenehm, dass niemand sie hier haben will. Niemand ist ihnen je mit offenen Armen begegnet, also sind sie vorsichtig und nehmen keine Lebensmittel oder Getränke von den Einheimischen an, aus Angst um ihre Gesundheit“, sagt der Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow.

In Cherson sind sowohl die Besatzungstruppen als auch die Kollaborateure unruhig. Die Partisanen warnen die Einheimischen davor, die Russen zu unterstützen, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Regionalrates in Cherson, Jurij Sobolewski. Aufgrund der kräftigen Partisanenbewegung erhöhen die Russen konstant ihre Auswahlkriterien, führen mehr Durchsuchungen durch und entführen Personen, fügt der Beamte hinzu.

Den Spezialstreitkräften zufolge ist der gewaltfreie Widerstand der Einwohner eine wichtige Unterstützung für den Partisanenkampf.

„Eine Postkarte, ein Graffiti, ein Telegram-Kanal, ein Drohbrief am Auto. Solche Dinge wirken auf den ersten Blick nicht besonders groß, nicht so wirksam wie eine Autobombe. Doch glauben Sie mir, wenn ein einfacher Fußsoldat oder ein Offizier aus Rostow in einer Stadt wohnt, in der jeder Bewohner ihn viel lieber tot sehen würde, wo er ohne seine Familie ist und mit seiner Arbeit nichts erreicht, wird die Heeresleitung ihn demütigen, weil er seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Das rüttelt stark an der Moral und dem psychischen Befinden der Besatzer“, meint der Sprecher der Nationalen Widerstandsbehörde.

Er hofft, dass das Wissen um den starken Widerstand in der Bevölkerung auch dafür sorgen wird, dass die Russen sich bei der Befreiung der besetzten Städte durch die ukrainische Armee schneller zurückziehen werden.

Die Widerstandsbewegung wirkt nicht nur demoralisierend für die Russen, sondern ist gleichzeitig eine Ermutigung der Einheimischen, die seit vier Monaten unter der Gewalt der Besatzung leben. „Verzagtheit“ ist ein Wort, das in den Gesprächen von hromadske und den interviewten Personen häufig fällt.

Rascher Rückzug der Russen

„Die Menschen gewöhnen sich irgendwie an die neue Realität“, sagt Iwan Antipenko, ein Journalist aus Cherson. „Das Narrativ, die Ukraine hätte uns zurückgelassen, verbreitet sich weiterhin. Und es wird funktionieren. Als die Ukraine nicht gekommen ist, hat sie uns verlassen - das ist eine einfache Rechnung, die die normalen Bürger auf den Dörfern machen werden. ‚Ja, es ist schwierig hier, aber im Bezirk Henitschesk zum Beispiel schießen sie nicht. Die Preise haben sich geändert, sie sind nun in Rubel angegeben, manche Menschen sind fortgegangen. Aber Nahrungsmittel sind vorhanden, ein Gemüsegarten wurde angelegt, kleine Geschäfte wurden eingerichtet. Man kann Gemüse auf die Krim liefern. So kann man leben.‘ Wir können nicht zulassen, dass dieses Narrativ sich durchsetzt.“

Jurij Sobolewski zufolge wollen die Russen die Einheimischen davon überzeugen, dass die Ukraine die Oblast Cherson nicht bräuchte und sie nun für immer zu Russland gehören wird. Der Journalist Iwan Antipenko rät dazu, auf verschiedene Arten daran zu erinnern, dass Cherson ukrainisch ist, und so einer allgemeinen Entmutigung vorzubeugen.

„Nicht nur mit Worten im Fernsehen, sondern auch mit Taten, besonders vonseiten der Widerstandsbewegung“, so der Journalist.

Der Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, spricht ein wirksames Mittel an - die Zentren für verschleppte Menschen in den kontrollierten Gebieten, in denen Unterstützung angeboten wird. Das Zentrum für Nationalen Widerstand appelliert an die Ukrainer, mehr mit den Menschen in den besetzten Gebieten zu kommunizieren - selbst an Menschen zu schreiben, die man kaum kennt, um sie mit Worten zu unterstützen.

👉 Originalartikel auf hromadske.ua auf Ukrainisch und Englisch
In Zusammenarbeit mit European Cultural Foundation

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