Opinion Bildung in Belarus

Lebe wohl, Land der IT: Willkommen in der Knechtschaft nach belarusischer Art

Um Fachkräfte im Land zu halten, stellt das belarusische Regime die Kontrolle über die Bildung in den Vordergrund. Diplomierten wird nach ihrem Abschluss eine Arbeitspflicht auferlegt. So entstand eine moderne Form der Knechtschaft mit dem Ziel, die Bedürfnisse des Staates zu erfüllen. Der Schwerpunkt liegt auf Gehorsam, nicht auf individuellen Ambitionen oder einer wissensbasierten Wirtschaft, meint der Kolumnist Igor Lenkewitsch.

Veröffentlicht auf 15 November 2023 um 18:31

Inzwischen ist klar, dass der Staat seinen Ehrgeiz, eine moderne Nation zu schaffen, aufgegeben hat. Die Qualität der Bildung und das Wissensniveau, das den Studierenden in Schulen und Universitäten vermittelt wird, fallen den unmittelbaren Bedürfnissen des Regimes von Alexander Lukaschenko zum Opfer.

„Es ist nicht Ziel unserer heutigen Zusammenkunft, grundlegende Entscheidungen zu treffen“, so begann Lukaschenko Ende September das Gespräch mit einer Versammlung von Bürokrat*innen aus dem Bildungsbereich und den Kontrollorganen des Staates. Angesichts der gegenwärtigen Lage des Landes war es jedoch unmöglich, grundsätzliche Maßnahmen zu vermeiden. Eines der Hauptthemen des Treffens war daher die Anwerbung von Hochschulabsolvent*innen.

Der Grund dafür liegt auf der Hand, und niemand hat sich besonders bemüht, ihn zu verbergen. „Die fortschrittlichsten und besten Spezialist*innen wandern aus“, erklärte der Staatschef von Belarus. Und das sei „inakzeptabel für das Land“.

Nach Lukaschenkos Meinung ist das System daran schuld. Aber er meint wohl nicht das System, an das Sie denken. Es ist nicht das System der Macht, der staatlichen Verwaltung und der Entscheidungsfindung, das in Belarus seit fast dreißig Jahren herrscht und in dem viele Bürger*innen des Landes keine Zukunft für sich sehen. Nein, es geht um das allzu „liberale“ System der Zuweisung von Arbeitsplätzen an Hochschulabsolvent*innen, das für die Auswanderung von Fachkräften aus dem Land verantwortlich ist – „Wenn sie ihren Abschluss haben, kümmern sie sich nicht um die Begleichung ihrer Schulden beim Staat und verlassen das Land.“

Derzeit müssen Studierende, die staatliche Unterstützung erhalten, nach ihrem Abschluss zwei Jahre in einem Job und an einem von den Behörden zugewiesenen Arbeitsplatz verbringen. Das reicht nicht mehr. Es ist mehr erforderlich. Künftig werden die Arbeitnehmer*innen eng an ihren Arbeitsplatz gebunden sein müssen.

Dies wird nicht mehr nur für die gelten, die staatliche Gelder erhalten, sondern auch für diejenigen, die ihr Studium selbst bezahlen. Lukaschenko äußerte Vorschläge und nannte genaue Zahlen, die offensichtlich die Basis für die „nicht grundlegenden Änderungen“ bilden werden, die verabschiedet werden sollen. Nach Lukaschenkos Worten werden „obligatorische oder zumindest halb-obligatorische“ Maßnahmen eingeführt werden müssen.


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Die Dauer der Pflichtarbeit könnte in Zukunft also durchaus fünf Jahre betragen. Für Studierende, die von einer öffentlichen Einrichtung oder einer privaten Organisation zum Studium geschickt werden, könnten es sieben Jahre sein. Und die Studierenden, die ihr Studium selbst bezahlen, sollen ebenfalls gezwungen werden, eine Zeit lang an einem staatlich zugewiesenen Arbeitsplatz zu arbeiten – die notwendigen Änderungen des Bildungsgesetzes werden derzeit ausgearbeitet. 

Wir haben es also jetzt mit einer modernen Form der Knechtschaft zu tun, die an die Bedürfnisse des herrschenden Regimes angepasst ist. Die langfristige Überlegung ist ganz klar: Nur sehr wenige werden in der Lage sein, die vom Staat geforderte Ausgleichszahlung zu leisten, um der obligatorische Arbeitszuweisung zu entkommen. Die große Mehrheit der frischgebackenen Fachkräfte wird gezwungen sein, dort zu arbeiten, wohin der Staat sie hinschickt.

Dann kommt die einfache Arithmetik ins Spiel: Die jungen Leute schließen ihr Studium mit 22 oder 23 Jahren ab. Hinzu kommen fünf oder vielleicht sogar sieben Jahre Pflichtarbeit. Dann sind die Diplomierten über 30 und haben bereits eine Familie mit einem oder sogar zwei Kindern. Sie haben eine Hypothek auf ihre Wohnung und müssen Geld für deren Einrichtung zurückzahlen. Es wird viel komplizierter, einfach die Zelte abzubrechen und woanders hinzuziehen. Natürlich wird es einigen gelingen, sich abzusetzen, aber bei weitem nicht allen. So kann der Staat viel sparen.

Statt wirtschaftliche Anreize zu schaffen, um Menschen in die Teile des Landes zu locken, in denen sie gebraucht werden, kann der Staat zu einer einfachen, billigen Methode greifen – der Schuldknechtschaft. Wer kümmert sich dann noch um den Zugang zur Hochschulbildung – wen kümmert es, wie dieser funktioniert, wenn von nun an niemand mehr besonders daran interessiert ist? Der neue Slogan des belarusischen Bildungssystems lautet: „Wer sich versklavt, bekommt einen Universitätsabschluss“.

Infolgedessen werden sich natürlich viele Menschen damit abfinden, niemals eine Universität zu besuchen, um die anschließende jahrelange Zwangsarbeit zu vermeiden. Das ist genau das, was der Staat braucht. Auf den Bauernhöfen fehlt es an Arbeitskräften, also arbeitet dort. Ohne höhere Bildung und für einen lächerlichen Lohn.

Die Direktorin einer Minsker Schule, die an dem „ernsten Gespräch“ teilnahm, nutzte ihre Fähigkeit, die Bedürfnisse des Staates zu durchschauen, und erklärte, die Eltern müssten sich unbedingt von der Vorstellung befreien, dass eine höhere Bildung unerlässlich sei. Das ist wahr: Je größer die Weisheit, desto größer der Kummer. Wir haben eine Generation von Menschen hervorgebracht, die denken, dafür gibt es aber niemanden mehr, der Kühe gründlich wäscht.

Aber selbst das reicht nicht aus. Die Fachkräfte sollen eine Ausbildung erhalten, die sie außerhalb von Belarus nutzlos macht. Der oberste Staatsanwalt des Landes, Andrei Schwed, ist empört über die vielen Stunden Englischunterricht an Schulen. Er wettert: „Bilden wir Arbeitskräfte für den Westen aus?“ Also, lebe wohl, Land der IT. Wir brauchen kein Englisch, und auch nicht die globale Welt oder die digitale Wirtschaft.

Wir brauchen uns nicht darüber auszulassen, was das Hauptziel ist: Das Regime braucht nicht nur Spezialist*innen, es braucht spezialisierte Arbeitskräfte für bestimmte Unternehmen im staatlichen Sektor. Nicht für die Privatwirtschaft, sondern für den staatlichen Sektor. Den Schüler*innen wird heute und in der Zukunft nicht das beigebracht, was sie für ihr späteres Leben als wertvoll erachten, sondern das, was von einer Volkswirtschaft verlangt wird, die keineswegs als fortschrittlich bezeichnet werden kann.


Lebe wohl, Land der IT. Wir brauchen kein Englisch, und auch nicht die globale Welt oder die digitale Wirtschaft


Bezeichnend ist die Aussage eines Journalisten eines staatlichen Fernsehsenders: „Bildung ist die Quelle der Entwicklung, einer erfolgreichen Wirtschaft, einer sich festigenden Ideologie und nicht zuletzt der Vitalität des Staates“. Dies ist die Quintessenz der Erwartungen des Regimes – alles für die Bedürfnisse des Staates. Kein Wort über die individuellen Hoffnungen und Bestrebungen der Menschen, nach denen sie morgen und in 20-30 Jahren leben und arbeiten werden. Die Aufgabe der Bildung ist „Gehirnwäsche“. Man will gehorsame und anspruchslose Arbeitskräfte in die Welt schicken, die bereit sind, in irgendeinem landwirtschaftlichen oder industriellen Betrieb zu arbeiten und die so als Rädchen im Getriebe des Staates dienen. Der Staat in seinem aktuellen Zustand kümmert sich um nichts anderes.

Und es gibt noch eine weitere Modeerscheinung: die Idee, dass Schulkinder an manuelle Arbeit gewöhnt werden sollen. Das Schulgelände muss verschönert werden? Das können die Kinder machen. „In manchen Schulen wird ein neuer Anstrich nötig sein, Fenster oder Türen müssen ersetzt werden oder das Schulgelände sollte aufgeräumt werden. Bei all diesen Arbeiten müssen die Kinder mithelfen.“ Stimmt, denn Kinder gehen ja schließlich nicht in die Schule, um zu lernen, oder? Nein, man sollte ihnen dort beibringen, wie man einen Spaten richtig hält. Oder einen Hammer. Damit sie sich von Kindesbeinen an daran gewöhnen können, wie ihre Zukunft aussehen wird.

Die Verantwortlichen sagen schon lange, dass die Belarus*innen außer in ihrem eigenen Land nirgendwo gebraucht werden. Jetzt ist der Staat also von Worten zu konkreten Taten übergegangen – mit der Qualität der Bildung, von der er jetzt redet, werden unsere Kinder wirklich nirgendwo auf der Welt gebraucht werden. Das wird für den Staat ein großer Vorteil sein. Menschen zu versklaven und sie für einen Hungerlohn arbeiten zu lassen, ist viel einfacher, wenn ihr Heimatland der einzige Ort ist, an dem sie eine Rolle für sich finden können.

Das Regime braucht keine „Wissensökonomie“, sondern eine „Gehorsamsökonomie“. Genau das strebt das Regime an. Die Zukunft des Landes und der Menschen, die darin leben, sind ihm völlig egal.

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