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„Das vorherrschende Gefühl ist Angst”

Gemessen an der Bevölkerungszahl hat die Republik Moldau die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen. Seit dem Krieg herrscht Angst vor einem Wiederausbruch des Transnistrien-Konflikts. Auch Erinnerungen an Hungersnöte und Deportationen aus Sowjetzeiten brechen wieder auf, sagt die moldawische Autorin Emanuela Iurkin.

Veröffentlicht am 28 Juli 2022 um 09:57

Am ersten Kriegsmorgen gab es nichts als Entsetzen, Schock und Verstummen. Sämtliche Worte waren einfach verschwunden. Als wäre eine Rakete in meinem Vokablar explodiert und hätte alle mir bekannten Wörter zerfetzt. Tatsächlich hat es düstere Vorahnungen gegeben, aber die Wirklichkeit des 24. Februar übertraf alles. Als ich endlich den Mund aufmachte, tat ich das, um zu fluchen. Später wurden die Flüche von stillen Bittgebeten abgelöst.

Ich glaube, der Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine am 24. Februar hat selbst die Erwartungen der feurigsten Kreml-Sympatisanten in Chișinău bald übertroffen, die am 23. Februar bis spät nachts den Tag der Sowjetischen Armee mit Feuerwerk begangen hatten. Am nächsten Tag sah ich auf der Straße (russischsprachige) Menschen, die ernsthaft den Krieg feierten, mit Wodka und Siegesparolen, „za pobedu“. Ich sah auch Leute mit traurigen, düsteren Gesichtern voller Unsicherheit. Wir sind eine bunte Gesellschaft, verschiedene Auffassungen, vage und empörte Überzeugungen, der Hass brodelt und wird gerade neu geschürt und befeuert von der immer geringer werdenden Kaufkraft der Bevölkerung.

Neben der gigantischen Flüchtlingswelle, die unser Land durchrollt hat, oder anderen Geflüchteten, die beschlossen haben, hier zu bleiben (gemessen an der Bevölkerungszahl nehmen wir mehr Flüchtlinge auf als jedes andere Land), neben dem rasenden Preisanstieg (auch dank der hiesigen Halbkriminellen und Profiteure), hat der Krieg die Angst gebracht. Eine lähmende Angst und den instinktiven, fast unkontrollierbaren Wunsch, das Weite zu suchen, zur Grenze zu fliehen, nach Iași, so weit wie möglich fort von hier.

Am Abend des 26. Februar, als ich, angeregt von einem großartigen Aufruf an die Zivilbevölkerung, an die einfachen Leute, ein Paket mit dem Notwendigsten für Geflüchete packte, erreichte meine Angst ihren Höhepunkt. Ich fragte mich auf einmal, ob es nicht passender wäre, meinen Koffer für einen eventuell notwendigen plötzlichen Aufbruch zu packen.

Ich schämte mich, aber tat dann genau das. Als ich von der Sammelstelle für die Hilfspakete zurück kam, erreichte mich die Nachricht, der Zug nach Iași führe ab jetzt täglich. Ich sagte meiner Mutter, wenn die Situation sich bis Montag verschlimmerte, würden wir nach Iași fahren, auch wenn uns dort niemand erwartete.

Den Koffer packte ich erst am 9. Mai wieder aus. Heute, Mitte Juni, nachdem ich gelesen habe, dass Mihailo Podoleac, der Berater des Präsidenten in Kiew die für die Ukraine notwendigen Waffen per twitter aufgelistet hat, oder darüber, dass die russische Armee systematisch bombardiert und katastrophale Zerstörung anrichtet, einige Städte sind fast gänzlich eingenommen, da frage ich mich, ob das Auspacken nicht voreilig war.

Mit der Gefahr, mich zu wiederholen – in all dieser Zeit war und ist die Angst das vorherrschende Gefühl gewesen. Die genetisch vererbte Angst ist brutal wieder ausgebrochen und hat die Historie (Hungersnöte, Deportationen, Zwangkollektivierung, etc) mit der Wirklichkeit des Kriegsalptraums vermischt, der auf den Bildschirmen der Telefone mitverfolgt wird.

Unter all den schrecklichen Informationen der ersten Tage sah ich plötzlich ein Foto, das an einem Grenzübergang gemacht wurde. An dieses Foto klammerte ich mich verzweifelt, es ist für mich wie ein Fleckchen blauer Himmel in einem Meer der Dunkelheit. Auf diesem Foto sind Geflüchtete zu sehen, die in die Republik Moldau kommen, der Fotograf hat ein etwa siebenjähriges Kind fotografiert, das neben seiner Mutter her geht und in den Händen hält es einen Karton, in dem eine kleine Zimmerpflanze steht. Dieses Kind, das auf die Wanderung eine Zimmerpflanze mitgenommen hat, wird mich für immer begleiten. Es hat mir geholfen, die Tausende von alptraumhaften Bildern leichter zu ertragen, die ich gesehen habe und die wir jeden Tag sehen.

Anfang März diesen Jahres sind es dreißig Jahre seit dem bewaffneten Konflikt am Nister gewesen. Ein inzwischen erstarrter Konflikt, der an unseren Nerven zehrt und auch am Land. Ebenfalls im März erfuhren wir alle von den furchtbaren Ereignissen in Butscha und anderen Orten. In Chișinău sprach man vom Fehlen oder der Existenz und vor allem dem Zustand der Bombenschutzkeller in der Republik Moldau. Verzweifelt suchte man nach Schuldigen oder Verantwortlichen.

Eines Freitags, am 8. April, veranstaltete der Cartier-Verlag mit Verspätung das Fest der verbilligten Bücher - Die Nacht der offenen Bücher. Im Buchladen Librărie din Centru, die in einem Keller am Zentralboulevard von Chisinău in der Nachbarschaft des Innenministeriums liegt, sprachen alle über die Barbaren und den Krieg. Damals wurde mir klar, dass die Librărie din Centru der geeignete Schutzraum gegen Bomben und Raketen wäre. Der ideale Ort, um sich zu verstecken. Ein Ort, an dem man, umgeben von Büchern, keine Angst vor dem Sterben hätte.


Mit der Gefahr, mich zu wiederholen – in all dieser Zeit war und ist die Angst das vorherrschende Gefühl gewesen


Ebenfalls im April begann meine Mutter mitten in der allgemeinen Unsicherheit, den Badezimmerboden zu streichen. Ich meinte natürlich, das hätte doch unter diesen Umständen, wenn wir nicht wüssten, was käme, keine Eile. Ich rief ihr verängstigt ins Gedächtnis, dass wir direkt neben dem Militärkrankenhaus wohnen und sehr nah an der Kaserne - strategische Ziele usw. Ich frische ihn nur auf, lies nicht mehr so viele Nachrichten, das tut dir nicht gut, sagte meine Mutter vollkommen ruhig und machte sich an die Arbeit. Danach half ich ihr, den Osterkuchen zu backen. Wenn meine Mutter den Boden streicht und Osterkuchen backt, dann rückt der Krieg von uns ab.

Am Abend des Karsamstag studierte ich plötzlich wuterfüllt und mit Tränen Tutorials für die Herstellung von Molotowcocktails. Das war nach der Nachricht, am Nachmittag hätten sie Odessa bombardiert und in einer Wohnung wären drei Personen gestorben: Großmutter, Mutter und Tochter - ein wenige Monate altes Kind. Christus ist auferstanden!

Am Wochenende nach Ostern war ich auf dem Land und Onkel Vasile, der 1992 am Nister gekämpft hatte, fragte mich, wann wohl über uns das Unglück hereinbrechen würde. Ich sagte, es würde nicht hereinbrechen, die Explosionen in Transnistrien wären nur ein Austesten der Reichweite, ob unsere Nerven das aushielten, eine Art Vertiefung und Wiederholung unserer Ängste. Die Separatisten in Transnistrien hätten keine Lust, die Macht zu verlieren, aber auch nicht auf Krieg, das ökonomische Interesse wäre wichtiger.

Mir hat eine Frau in Edineț wahrgesagt, ich würde in ein paar Monaten sterben, ich hoffe ja sehr, ich sterbe, bevor es anfängt. Der Krieg 1992 hat mir total gereicht, sagte er. Er hob seine Hand hoch, um mir zu zeigen, bis wo es ihm stand. Ich versuchte ihn zu beruhigen: Die Frau hat nur ihre Arbeit gemacht, sie braucht auch was zu beißen, du musst nicht gleich alles glauben. Er zündete sich eine Zigarette an, nickte, seufzte und ging sich betrinken. Onkel Vasile hat in der Nähe von Moskau einen Sohn und zwei Enkel, die vor der Armut geflohen sind. Ein paar Stunden später hörte ich ihn durchs Viertel brüllen: Bessarabien brennt! Bessarabien brennt, Mann!

Der 9. Mai, den ich mit Angst erwartet hatte, kam und ging mit all seinen schwarz-orangen Schleifen vorüber, auch mit der Arroganz, der Unverschämtheit und Frechheit. Die Busse mit bezahlten Menschen, die organisiert aus dem Umland hergebracht worden waren, erinnerten mich an die vergangenen Wahlen - Gruppen von Bürgern, denen man Geld angeboten hatte, um ihr Wahlrecht auszuüben.

Es wird immer häufiger über ausländische Waffenausstattung für die Republik Moldau geredet - neutrales Land heißt ja nicht gleichgültig für die eigene Sicherheit. Die Top-Militärsachverständigen und Moldauischen Generäle wiederholen immer Dasselbe: Es besteht in keiner Weise die Gefahr eines Angriffs durch die russische Armee.

Im Moment geht die größte Gefahr von allen möglichen Kleinkriminellen und Profiteuren im Inland aus, mit und ohne schwarz-orange Schleifen.

Die Deportation der ersten Moldauer hat im Juni vor 81 Jahren stattgefunden. Es wäre gut, das nie mehr zu vergessen. Uns jetzt daran zu erinnern, vor dem Hintergrund der heutigen Deportationen aus der Ukraine.

Die Geschehnisse von Butscha werden einen speziellen Zustand des nationalen Gedächtnisses hervorrufen - wir werden tatsächlich aufhören, zu vergessen. Wir werden nicht vergessen, so schrieb der Schriftsteller Juri Andruchowytsch kürzlich in der Zeitschrift Dilema Veche. Ich wünschte, das würde auch für die Moldauer gelten.

Zwischen den Nachrichten über Explosionen in der Ukraine und der Preisexplosion in der Republik Moldau kauft meine Mutter Vorräte ein, ich behaupte stur, es wäre angemessener, unsere Koffer wieder zu packen.

Ich bin in einem Geschäft, die Leute kaufen hysterisch ein, ohne Verstand, aus Angst vor jetziger und zukünftiger Verteuerung. Hinter mir ist ein altes Ehepaar, die sanft miteinander über ein Päckchen getrockneter Erbsen streiten, die Frau will sie unbedingt wieder ins Regal zurück legen. Erbsen kochen zu lange, Gas ist teuer, wir nehmen nur Weizengrütze und Nudeln.

Später wird man viel über all die Zusammenhänge dieses Krieges sprechen. Die Aufrichtigkeit, mit der man sprechen wird, wird sehr wichtig sein. Gerade macht mir die Tatsache Angst, dass wir uns langsam aber sicher an ihn und seinen Schrecken gewöhnen, und auch an die Armut, an die sind wir seit Langem gewöhnt.  

In Zusammenarbeit mit S. Fischer Stiftung

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