Analyse Das Europa der Verschwörungstheorien | Interview mit Andreas Önnerfors

Andreas Önnerfors: „Verschwörungstheorien nähren Populismus“

Andreas Önnerfors ist Professor für Geistesgeschichte an der Universität Salzburg. Er ist Spezialist für rechtsextreme Ideologien in Europa, Radikalisierung und Verschwörungstheorien. Er ist Co-Autor des Buches Europe: Continent of Conspiracies. Für Voxeurop erklärt er die Besonderheiten europäischer Verschwörungstheorien und welche davon sich gegen die EU richten.

Veröffentlicht am 2 August 2021 um 13:07

Peggy Corlin für Voxeurop: Der Titel Ihres Buches lautet Europe, continent of conspiracies (Europa: Kontinent der Verschwörungen). Sind Verschwörungstheorien in Europa weiter verbreitet als anderswo?

Andreas Önnerfors: Nein, das kann man so nicht sagen. Es gab in der Forschung einen Fokus darauf, wie Verschwörungstheorien die amerikanische Politik seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 geprägt haben. Auch der paranoide Stil der amerikanischen Politik während der McCarthy-Jahre, während der Iran-Contra-Affäre, seit 9/11 und seit Beginn des QAnon-Phänomens im Jahr 2016 wurden daraufhin untersucht. Wir haben erforscht, ob es dazu in Europa Parallelen gibt. Aber die Lage ist aufgrund der besonderen Situation Europas nicht vergleichbar. 


Das Europa der Verschwörungstheorien

  1. Populismus und Verschwörungstheorien nach italienischer Art
  2. Wie QAnon sein Netz in Europa spinnt
  3. Europa: Die Kulturbühne der Verschwörungstheoretiker
  4. Wie George Soros vom Demokratieboten zum „Volksfeind“ Ungarns gemacht wurde
  5. Andreas Önnerfors: „Verschwörungstheorien nähren Populismus“

Was ist das Besondere an Europa?

Der große Unterschied zu Amerika besteht darin, dass Verschwörungstheorien in Europa immer Visionen einer äußeren Bedrohung beinhalten. Die Amerikaner glauben daran, dass Gruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft diese zerstören wollen, seien es Kommunisten oder zum Beispiel katholische Gruppen in den 1920er Jahren. In Europa dagegen beinhaltet das konspirative Narrativ immer die Vorstellung einer Bedrohung, die von außen kommt. Dabei gibt es zwei Dynamiken: eine, die sich um innere Feinde dreht – Schwule, Lesben, Freimaurer und so weiter – und eine, die äußere Feinde heraufbeschwört – der muslimische Andere, der jüdische Andere, der russische Andere – und alle wollen sie die Einheit Europas zerstren.

Sind die EU-Institutionen oder die EU selbst Ziel von Verschwörungstheorien?

In den ersten beiden Kapiteln unseres Buches geht es zunächst um die zunehmende Islamophobie in Europa, durch die populistische Parteien immer mehr Zulauf bekommen, und dann um die angebliche muslimische Invasion - um den sogenannten großen Austausch, wie der französische Autor Renaud Camus es ausdrückt. Weitere Verschwörungstheorien drehen sich um den Kalergi-Plan , eine Art Masterplan für die Umstrukturierung Europas und der europäischen Institutionen, der als Beweis für den ultimativen Angriff auf die Nationalstaaten und ihre Unabhängigkeit herangezogen wird. Im Bereich der inneren Feinde sind auch die EU-Institutionen Teil des Komplotts. Die EU stärkt demnach die Macht einer supranationalen Struktur, die darauf abzielt, den Nationalstaat, die heterosexuelle Familie, die traditionellen Werte und so weiter zu zerstören. Das kann unterschiedliche Formen annehmen: Für die einen fördern die EU-Institutionen den säkularen Totalitarismus, während sie von anderen als eine Form der vatikanisch-katholischen Übernahme angesehen werden. In den nordischen Regionen basieren die Anti-EU-Verschwörungen auf der Angst, dass eine katholische Bewegung die nordische Freiheit und Unabhängigkeit zerstört. Solche Verschwörungstheorien haben auch den Brexit in Großbritannien befeuert, wo die EU als eine fremde Rechts- und Politikkultur dargestellt wurde, die als Bedrohung empfunden wurde. 

Gibt es EU-Mitgliedstaaten, die stärker betroffen sind als andere?

Ja, unsere Studien zeigen, dass Deutschland aus verschiedenen Gründen besonders stark im Visier der Verschwörungstheoretiker steht. Das hat während der griechischen Schuldenkrise angefangen, als Deutschland den Griechen scheinbar diktieren wollte, wie sie ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln hatten. In den griechischen Medien wurde die EU plötzlich als eine Fortsetzung des Naziregimes dargestellt, als ein von den Deutschen geführtes Viertes Reich. Diese Idee wurde von russischen Verschwörern aufgegriffen. In der Brexit-Debatte stand Deutschland ebenfalls im Zentrum vieler Verschwörungstheorien, da es die europäische Politik angeblich kontrollieren und dominieren will, wiederum als Fortsetzung des Dritten Reiches. 

Wer fördert diese Theorien?

Populistische politische Akteure auf rechter und linker Seite profitieren von ihnen. Denn ein wesentlicher Bestandteil der populistischen Botschaft beruht auf der Idee, dass eine Elite gegen das Volk vorgeht. Ein starker Führer spricht immer im Namen des Volkes und zieht so eine klare Grenze zwischen Volk und Elite. Wie wir im letzten Jahrzehnt gesehen haben, sind es vor allem rechtspopulistische Bewegungen, die von Verschwörungstheorien profitieren. Sie können auf diese Weise Experten, den Rechtsstaat, supranationale Entscheidungsprozesse oder die politische Klasse als Hauptfeind ausmachen, und das überzeugt viele Menschen. Verschwörungstheorien wirken besonders gut im innenpolitischen Bereich, das nutzt zum Beispiel Podemos in Spanien aus, Syriza in Griechenland, die AfD in Deutschland, Marine Le Pen in Frankreich und auch die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben davon profitiert. Ein anderer Aspekt ist, dass Verschwörungstheorien von ausländischen Akteuren als Teil einer Desinformationspolitik verwendet werden. Russland ist Ursprung vieler solcher Narrative, China auch, in geringerem Maße, als die Chinesen zum Beispiel Verunsicherung gestiftet haben bezüglich der Corona-Impfstoffe. Die Hauptakteure aber sind die Medien und die sozialen Netzwerke, die der russischen Regierung gegenüber loyal sind. Denn Verschwörungstheorien haben eine gewaltige Schlagkraft: Man kann sie als Erklärung für laufende politische Ereignisse einsetzen und damit seine politischen Gegner unterminieren. Das ist ganz einfach, weil alles auf narrativer Ebene stattfindet. Diese Ebene wird immer wichtiger. Außerhalb der EU hat auch die amerikanische Internet-Sekte QAnon begonnen, in die europäische Debatte einzudringen, insbesondere innerhalb der Covid-Skeptiker-Bewegung.

Gibt es bestimmte Regionen in Europa, in denen Verschwörungstheorien weiter verbreitet sind?

Das hängt von der Art der konspirativen Erzählung ab. In Ländern, die anfällig für russische Desinformation sind, kann man zum Beispiel beobachten, dass bei den Parlamentswahlen in Moldawien Anfang Juli das Anti-EU-Lager mit Verschwörungstheorien gegen die Europäische Union und westliche liberale Werte hausieren gegangen ist. Das Gleiche gilt für Viktor Orbán und den Streit um die Anti-LGBT+-Gesetze. Diese Art von Narrativ, das LGBT+ mit verschwörerischen europäischen Werten in Verbindung bringt, ist in Südosteuropa sehr stark verbreitet. Im Gebiet von Polen bis runter zum Schwarzen Meer hat sich eine alternative Interpretation europäischer Werte verankert. In dieser Region sind russische Desinformationskampagnen stark präsent. Was die Impfgegner und Covid-Leugner betrifft, sind diese von Berlin bis London besonders zahlreich vertreten, wo Hunderttausende auf die Straße gegangen sind, um gegen die Einschränkungen zu protestieren. In Dänemark gibt es eine ähnlich aktive Bewegung. Es ist also schwierig zu sagen, Verschwörungstheorien seien hier oder dort stärker vertreten. Jede Art von Narrativ muss separat betrachtet werden.

Gibt es bestimmte Ereignisse, die in den letzten Jahren zu Verschwörungstheorien geführt haben? 

Ja. Verschwörungstheorien folgen immer auf Krisen in Europa. In Krisenzeiten wollen die Leute Antworten: Warum passiert das? Verschwörungstheorien sind großartig, weil sie nicht nur die Fakten erklären, sondern auch die Moral dahinter. Man bekommt immer gesagt, wer für die Misere verantwortlich ist oder etwas Schlimmes getan hat. Dieses Muster haben wir in den letzten zehn Jahren beobachtet. Während der Finanzkrise war es natürlich einfach, das internationale Kapital und die Globalisierungsbefürworter zu beschuldigen, die Wirtschaft zu manipulieren. Dann wurde die Flüchtlingskrise zu einem perfekten Terrain von Verschwörungs-Phantasien, die den Leuten glauben machten, dass diese Krise nicht zufällig entstanden ist, sondern von jemandem gesteuert wurde. Und jetzt haben wir die Pandemie, ebenfalls ein perfekter Nährboden für die verschiedensten Erklärungstheorien.

Sind diese Theorien gefährlich?

Ja, auf jeden Fall. Ihr Erfolg hängt übrigens davon ab, welche Idealvorstellung wir von Politik haben. Wer meint, Politik sei eine Sache von Leidenschaft, akzeptiert viel schneller, dass mit Begriffen von Wut oder Angst argumentiert wird, wenn es um die Erklärung bestimmter Phänomene geht. Wer dagegen die Demokratie als auf Vernunft basierend betrachtet, argumentiert mit Rechtsstaatlichkeit oder bildet sich seine Meinung mit Hilfe von Experten, die die Grundlage für eine solide Entscheidungsfindung schaffen. Dies ist ein zentraler Gegensatz in der Demokratie. Was wollen wir? Eine Politik der Leidenschaft oder eine Politik der Vernunft? Verschwörungstheorien sind gefährlich, weil sie zu 100 % auf die Politik der Leidenschaft setzen. Deshalb gibt es auch nichts Rationales an Verschwörungstheorien. Sie versuchen zwar rationale Argumente zu imitieren, aber diese können leicht entlarvt werden. Sie könnten niemals einem Gerichtsprozess oder einer wissenschaftlichen Argumentation standhalten. Die Politik der Vernunft aber wird immer mehr ausgehebelt, als zum Beispiel während der Brexit-Kampagne die Richter des britischen High Court als "Volksfeinde" bezeichnet wurden. Da wurde die Politik der Leidenschaft richtig gefährlich. Wir haben während der Covid-Proteste in Berlin und bei dem Angriff auf das Washingtoner Capitol am 6. Januar durch Trump-Anhänger erlebt, dass Gewalt für viele ein legitimes Mittel ist, um Politiker anzugreifen oder zu stürzen. Auch die Covid-Proteste sind sehr gefährlich.

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