Athen, 16. Juni. Bei der Demonstration gegen die Rentenreform.

Heißer Herbst in Sicht

Viele Europäer haben nicht die geringste Lust, die Rechnung für die Bankenkrise zu zahlen, und gehen auf die Straße, um ihr Missfallen kundzugeben. Doch erst Ende des Sommers wird sich zeigen, ob sich die Regierungen diesbezüglich Sorgen machen müssen.

Veröffentlicht am 2 Juli 2010 um 14:04
Athen, 16. Juni. Bei der Demonstration gegen die Rentenreform.

Auf den ersten Blick verbindet nichts die griechischen, französischen und italienischen Streikenden miteinander. Die einen regen sich über ihre sinkende Kaufkraft auf, die anderen wollen ihr Recht beibehalten, mit 60 in Rente zu gehen, und die dritten fürchten um ihre Arbeitsplätze. Und doch haben die Demonstranten der verschiedenen Länder etwas gemeinsam: Sie haben das Gefühl, sie müssen für die Bankenkrise aufkommen.

Eines nach dem anderen kündigen die europäischen Länder Sparpläne an. In mehreren davon geht es um Einfrierung der Löhne, Erhöhung des Rentenalters, Kürzung der Sozialleistungen und Lockerung der Kündigungsverfahren. Es wird gestreikt, aber bislang ohne viel Erfolg. "Es ist einfach noch zu früh für die harten Aktionen", erklärt Ton Wilthagen, Arbeitsmarktexperte an der Universität Tilburg. Mit Ausnahme von Griechenland und Spanien ist noch nicht bekannt, wie sich die Haushaltskrise auf die Arbeitnehmer auswirken wird. "Es wäre nicht sehr klug, im Voraus zu streiken."

Gemäßigte Streiks, damit die Rechte nicht einmarschiert

"Zudem spielt in Ländern wie Spanien, Portugal und Griechenland die Furcht vor dem nationalen Bankrott eine bedeutende Rolle. Deshalb sind die Arbeiter weniger dazu geneigt, eine Aktion gegen die Maßnahmen der Regierung zu unternehmen", erklärt Anton Hemerijck, Professor für Analyse der Institutionspolitik an der Freien Universität Amsterdam.

Dazu kommt die Tatsache, dass in Griechenland und in Spanien linksgerichtete Regierungen an der Macht sind. "Sie wollen das Risiko, dass bei den nächsten Wahlen wieder die rechten Parteien an die Macht kommen, nicht erhöhen." Ob sie ihre Meinung ändern könnten? "In einer Panikbewegung könnte Nordeuropa eine so harte Sparpolitik einrichten, dass es keine Wachstumsperspektiven mehr gäbe. Die Südländer sind jedoch für die Erholung ihrer Wirtschaft vom Norden abhängig. In einem solchen Fall hätten wir jetzt also die Ruhe vor dem Sturm."

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Brüsseler Einfluss auf Gewerkschaften des Südens

Die Niederländerin Catelene Pesschier, Vorstandsmitglied des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB), teilt diese Ansicht nicht. Für sie wird der durchschnittliche Europäer die Maßnahmen nicht akzeptieren. "Er hat den Eindruck, er muss für die Banken zahlen." Falls die Regierungen dieses Gefühl weiter ignorieren, sieht sie "einen noch heißeren Herbst" voraus.

Romke van der Veen, Professor für Soziologie an der Universität Rotterdam, sieht jedoch in der gemäßigten Haltung der südeuropäischen Gewerkschaften die Hand Brüssels. "Seit zehn Jahren versucht die Europäische Union, ihre Politik besser an die Tarifpartner anzupassen. Lange Zeit war man es im Süden Europas gewohnt, erst zu streiken und dann zu verhandeln." Die südlichen Länder sind von einer Verhandlungskultur wie in den Niederlanden noch weit entfernt. Da braucht man nur an die blutigen Demonstrationen Anfang Mai in Griechenland zu denken.

Spanier spüren die Maßnahmen aus Madrid, nicht aus Athen

Passchier zufolge "müssen die Gewerkschaften innerhalb Europas zusammenarbeiten und solidarisch sein". Sie findet, man müsse auf europäischer Ebene auf einer Lockerung der Kreditkonditionen für Griechenland bestehen. "Die Ersparnisse gehen auf Kosten der sozialen Errungenschaften und der Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Erholung. Man darf nicht vergessen, dass dieses Land erst seit noch gar nicht so langer Zeit wieder eine Demokratie ist." Es liege im Interesse aller, dass diese Demokratie die Krise überlebt.

Doch wie kann die Basis überzeugt werden? Ein spanischer Arbeitnehmer spürt die Maßnahmen aus Madrid, nicht die aus Athen. "Letztendlich entscheiden sich die meisten Gewerkschaften trotz allem für die Interessen ihrer eigenen Basis", erklärt der Streikexperte Sjaak van der Velden.

29. September kann Europa theoretisch lahmlegen

Die Gewerkschaften haben für den 29. September einen europäischen Aktionstag angekündigt. Es ist noch nicht bekannt, worin dieser genau bestehen soll. "Der Sommer ist eine schlechte Zeit für Streiks", erklärt Van der Velden. "Die derzeitige Ruhe hat also keinen Prognosecharakter." Anton Hemerijck meint, die Gewerkschaften könnten, theoretisch, Europa lahmlegen. Doch er hält das Risiko für nicht sehr hoch.

"Es wird nie so heftig werden wie in den achtziger Jahren, als die britischen Bergleute mit Thatcher zusammenprallten. Damals war das Gewerkschaftssystem noch ein echtes Klassensystem." Doch Hemerijck warnt die Politiker. "Wenn die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und der Industrie wirklich gemeinsam handeln, dann kann das zu großem Chaos führen. In der Theorie ist es nicht unmöglich, dass manche südeuropäischen Länder und auch der Euro zusammenbrechen." (pl-m)

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