Gleich zum Abendessen nach Hause? Demonstrant in Athen, 3. Mai 2010.

Zurück zu Mama

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der schweren Wirtschaftskrise in Griechenland müssen viele einstige Nestflüchter wieder bei ihren Eltern Unterschlupf suchen. Dabei profitieren sie von den starken Familienbanden, die eigentlich zur griechischen Krise beigetragen haben.

Veröffentlicht am 3 Mai 2011 um 14:14
Gleich zum Abendessen nach Hause? Demonstrant in Athen, 3. Mai 2010.

Haris überquert das Flachdach des Hauses seiner Mutter und zeigt auf die Feuerleiter, die er manchmal benutzt, um Freundinnen in sein Zimmer zu schmuggeln.

Auf halber Treppenhöhe hängt eine leicht verrostete Metalltür schief in den Angeln. „Leider quietscht diese Tür ganz schrecklich, wenn man sie öffnet. Dann steckt eine der alten Frauen im Haus sofort ihren Kopf neugierig aus dem Fenster und fragt: Hallo, wer sind Sie? Ich bin seine Großmutter.“

Haris Giannoulopoulos grinst: „Es gibt einfach keine Privacy mehr.“ Solche Geschichten ist man sonst eher von Teenagern gewohnt. Aber Giannoulopoulos ist immer hin reife 31.

Er gehört zu der Masse griechischer Erwachsenen, die sich wegen der Wirtschaftskrise wieder bei ihren Eltern einnisten. „Ich hatte einige Jahre lang eine eigene kleine Wohnung“, erinnert Haris sich wehmütig. „Sie war nicht groß, aber eben meine Wohnung. Ich konnte dort tun und lassen, was ich wollte. Und jetzt hocke ich wieder in meinem alten Kinderzimmer.“

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Familie: enge Bande und Vetternwirtschaft

In Griechenland spielt die Familie eine weitaus wichtigere Rolle als in West- und Nordeuropa. Viele griechische Eltern freuen sich, wenn ihre Kinder möglichst lang zu Hause bleiben und erst ausziehen, wenn sie heiraten. Mit dem wachsenden Wohlstand haben die Bräuche sich allmählich geändert. Die Jugend wurde früher flügge und hat sich eigene Nester gebaut. Das neue Motto hieß Individualismus. In letzter Zeit kehren allerdings immer mehr zu den guten alten Bräuchen und damit zu ihrer Familie zurück.

Die tiefe Rezession, die in Griechenland wütet, drückte das BIP letztes Jahr um 4,5 Prozent. Die Löhne und Gehälter sinken ins Bodenlose, während die Arbeitslosigkeit mit 15 Prozent immer neue Gipfel erstürmt. Vor diesem Hintergrund besinnen immer mehr Griechen sich ihrer Familie. Sie erleben die Unterstützung der Eltern auch nicht als persönlichen Misserfolg. „Die Familie ist bei uns sehr wichtig, erklärt Panayis Panagiotopoulos, der an der Universität Athen Soziologe unterrichtet. „Die Solidarität im Kreis der griechischen Familie ist enorm stark.“

Trotzdem kann er nicht umhin, die Ironie der Situation hervorzuheben, sind doch die engen Familienbande eines der Übel, die das Land in die Krise gestürzt haben. In der griechischen Wirtschaft und der griechischen Politik herrschen einige wenige einflussreiche Familien, die alle lukrativen Jobs und Aufträge ihren Verwandten und Bekannten zuschanzen. Alles bleibt in der Familie und führt zur Vetternwirtschaft. „Die Griechen misstrauen allen Menschen außerhalb des Familienkreises“, bemerkt er. „Das begünstigt natürlich die Korruption.“

Mit der Familie Korruption und Nepotismus ändern

Panayis Panagiotopoulos meint, die Griechen müssten, wenn sie Korruption und Nepotismus wirklich wirksam bekämpfen wollen, auch die Familienbeziehungen lockerer gestalten. Aber das braucht alles seine Zeit. „Die griechische Familie ändert sich nicht so schnell.“

Der Kurier Ioannis Koutsiari kann diese theoretischen Betrachtungen nicht nachvollziehen. Für ihn sind die engen Blutsbande ein Segen. Er freut sich, dass seine Eltern ihn wieder bei sich aufgenommen haben, obwohl sie alle zusammen ein Kellerzimmer teilen müssen. „So will man als 31-Jähriger natürlich nicht leben, aber ich hatte keine andere Wahl, ich war pleite und konnte meine Rechnungen nicht mehr bezahlen.“

„Die Krise hat mich um Jahre zurückgeworfen“, meint er. „Ich wohne wieder bei meinen Eltern und verdiene, was ich vor zehn Jahren verdient habe.“ Er will erst wieder ausziehen, wenn er heiratet und eine Familie gründet. Obwohl er eine Freundin hat, weiß er noch nicht, wann er das endlich schaffen wird. „Um zu heiraten, braucht man viel Geld. Womit soll ich das in dieser Wirtschaftskrise nur verdienen? Eine eigene Familie ist ein Traum, der in immer weitere Ferne rückt.“ (cr)

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