Ideen Archipel Jugoslawien | Serbien

Leben am Tatort

Tomislav Markovic war 14 als Jugoslawien zerbrach. 30 Jahre nach dem Zerfall des sozialistischen Systems, an das er geglaubt hat, versucht der serbische Autor, der in einem Klima aus Hass, Gewalt und Leugnung der Verbrechen aufgewachsen ist, noch immer zu verstehen, wie die Menschen in seiner Heimat zu Monstern wurden.

Veröffentlicht am 9 August 2021 um 12:56

Der blutige Zerfall Jugoslawiens fiel in die Zeit meiner Kindheit und meines Heranwachsens. Während der oberste Kommandant der Horde des Bösen, Slobodan Milošević, danach strebte, mein Land gründlich auseinanderzunehmen, formte ich mich als Person und denkendes Wesen. Nicht nur in meinem, sondern im Namen von uns allen, die wir in den Siebzigern geboren sind, kann ich sagen, dass uns die Erfahrung des Zerfalls Jugoslawiens entscheidend beeinflusst hat, dass sie uns als Menschen geprägt und bestimmt hat, was wir sind und sein werden. Auch wenn die Bezeichnung „Zerfall der SFRJ“ ziemlich weit verbreitet ist, ist sie nicht wirklich die adäquateste, es handelt sich vielmehr um einen grausamen, hinterlistigen Mord aus niederen Beweggründen. Als Tatzeitpunkt gilt für gewöhnlich das Jahr 1991, in dem sich Slowenien und Kroatien von Jugoslawien abspalteten und die kriegerischen Auseinandersetzungen ihren Anfang nahmen. 


Archipel Jugoslawien:

  1. Das leichte Leben
  2. Leben am Tatort
  3. Die apokalyptische Uhr
  4. 30 Jahre Archipel Jugoslawien
  5. Ich schreibe nicht über Krieg, weil ich es will, sondern weil ich keine andere Wahl habe
  6. Brüderlichkeit und Einigkeit

Ich tendiere eher zur Meinung des Rechtsanwalts Srđa Popović, des wahrscheinlich weisesten Interpreten unseres Grauens, wonach sich der Tod Jugoslawiens genau am 28. September 1990 ereignet hat, dem Tag, an dem die Verfassung Serbiens angenommen wurde, durch die sich Miloševićs Republik vom Bundesstaat praktisch abgespalten hat. Mit diesem Rechtsakt hat sich Serbien zum unabhängigen und souveränen Staat erklärt und fortan die rechtliche Ordnung der SFRJ nicht mehr geachtet. Serbien hat sich faktisch als Erstes von Jugoslawien abgespalten, was im allgemeinen Chaos dieser turbulenten Zeit jedoch unbemerkt geblieben ist, verdeckt von Miloševićs Propaganda über die Wahrung des Bundesstaats, hinter der sich der Plan verbarg, Kriege zu beginnen und ein Großserbien zu schaffen, in dem er der absolute Herrscher sein würde.

Zu diesem Zeitpunkt war ich 14 und besuchte die achte Klasse der Grundschule. Es folgte der komplette Zusammenbruch einer Welt, die ich gerade erst kennenzulernen begann, der Welt des sozialistischen Systems, das fest und beständig wirkte, als würde es für immer andauern. Alles, was sie mir acht Jahre lang in der Schule beigebracht hatten, war plötzlich nicht mehr gültig, alles wurde in Feuer und Blut zerstört, woraus etwas Neues und Anderes geboren wurde – eine Missgestalt, die unvergleichlich schrecklicher war als Dr. Frankensteins Monster. So begann, wie Radomir Konstantinović zu sagen pflegte, das Leben mit dem Monster. Und es dauert bis zum heutigen Tag an, denn das nationalistische Ungeheuer ist immer noch gesund und munter, es hat sich lediglich in seine Höhle zurückgezogen, um sich nach mehreren Kriegsniederlagen die Wunden zu lecken und auf eine günstige Gelegenheit zu neuem Menschenmorden zu warten.

Hass, Chauvinismus, Gewalt, Verbrechen, Konzentrationslager, Genozid, Armut, gesellschaftlicher Zerfall, Kriminalität, nationale Homogenisierung, Rehabilitierung der Tschetniks, Freiwilligenbanden, Kriegshetzerei, Bombardierung, Isolation, Sanktionen, Verschwörungstheorien, Leugnung der Verbrechen, Glorifizierung der Massenmörder — das ist das Ambiente, in dem ich aufgewachsen bin. Doch für Selbstmitleid und das Lamentieren über das schlimme Schicksal, allzu beliebte Disziplinen in dieser Region, ist kein Platz – ich habe es gut erwischt. Ich war im Land des Aggressors, auf dessen Territorium kein Krieg geführt wurde, ich hatte Glück, im Gegensatz zu vielen meiner Altersgenossen aus Kroatien, Bosnien oder dem Kosovo, die gelitten haben, weil sie keine Serben waren, deren Schulfreunde und Schulfreundinnen, Nachbarn, Eltern, Verwandte und Freunde getötet worden sind.   

Auf der Suche nach einer rationalen Erklärung

Gegen Ende des Lebens, in seinen späten Jahren, schrieb Srđa Popović in sein Notizbuch: „Zuerst lebt der Mensch, später versteht er dann, was er wirklich durchlebt hat.“ Dieser weise Spruch lässt sich auch auf meinen Fall anwenden, mit einem unbedeutenden Eingriff: Zuerst lebt der Junge, später versucht dann der Mann zu verstehen, was der Junge wirklich durchlebt hat. Die jahrzehntelange Praxis hat gezeigt, dass diese Aufgabe alles andere als leicht ist. Ich habe Tausende Seiten darüber gelesen, was uns widerfahren ist, Hunderte ausgezeichnete Texte und Analysen, Dutzende kluge, fundierte Bücher, in denen nahezu alles erklärt ist, und doch habe ich den Eindruck, dass mir nichts klar geworden ist. Schlimmer noch, ich habe mindestens mehrere Tausend Seiten über den Mord an der SFRJ, den großserbischen Nationalismus, Kriegsverbrechen, das Leugnen, die Rolle der Intellektuellen und der Kirche in der nationalistischen Konterrevolution, die Geschichtsrevision und Dutzende ähnliche Themen geschrieben, aber immer noch quält mich derselbe Eindruck der Unbegreiflichkeit des Grauens, in dem wir seit Jahrzehnten weiter bestehen. 

Mit meinem Eindruck bin ich nicht allein, ich teile ihn mit Menschen, die unsere Apokalypse noch viel ernsthafter, ausführlicher und fundierter untersucht haben. Nach Dutzenden Interviews und Texten, den vielen Jahren, in denen er zuerst davor warnte, was passieren würde, und dann den Untergang der serbischen Gesellschaft im Bösen präzise analysierte, sprach Srđa Popović im Sommer 2000 von jahrzehntelangen Freunden, die auf die andere Seite wechselten, Hass verbreiteten und bewusst zu Krieg und Gewalt aufstachelten: „Sie haben mein Verständnis von der Natur des Menschen verändert. Es hat sich gezeigt, dass Menschen zu unvorhersehbaren Metamorphosen fähig sind, dass Freundschaften brüchig sind, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen zu Monstern werden können. Ich versuche noch immer zu verstehen, wie das geschieht. Erfolglos. Ich weiß, manche wollten schnell an die Macht, ließen sich von billigem Applaus hinreißen, manche sind korrupt, trotzdem verstehe ich dieses Aussterben jeglichen Verstands, jeglicher Ehre, jeglichen Anstands, jeglichen menschlichen Mitgefühls nicht.“

In ihrem Buch Kovanje antijugoslovenske zavere („Das Schmieden der antijugoslawischen Verschwörung“) schlussfolgert Sonja Biserko nach einer ausführlichen Analyse der intellektuellen Elite und des serbischen nationalen Programms, nach einer Chronologie der Ereignisse von 1966 bis 2006 mit Hunderten von Zitaten, nach fast vierhundert Seiten fundiertester Darlegung der Genese des großserbischen Nationalismus, in der alles bis ins Detail erklärt ist: „Eine rationale Erklärung für alles, was in Serbien geschehen ist, nicht nur während der letzten zwei Jahrzehnte, sondern auch während des gesamten 20. Jahrhunderts, ist nicht möglich. Es gibt keine rationale Antwort auf die unnötigen Opfer der Kriege, die während des 20. Jahrhunderts und der megalomanischen Prätention auf dem Balkan geführt worden sind.“ Wie gut das Böse und dessen morbide Manifestationen auch untersucht werden, selbst wenn rationale Erklärungen für jede politische und ideologische Gewalttat gefunden werden, bleibt immer ein irrationaler Rest übrig, der sich nicht in rationale Kategorien einordnen lässt. Es bleibt immer eine innere Unruhe zurück, die unaufhörlich im Kopf pocht und immerzu dieselbe Frage wiederholt: Wie ist das alles überhaupt möglich?

Genau davon spricht auch die Figur von Faruk Šehićs Erzählung Pregaženi čovjek („Der überfahrene Mensch“): „Wenn mir jemand erklärt, was das für ein Mensch ist, der 1992 eines Morgens aufwacht, das Gewehr aus dem Versteck holt, die serbische Trikolore mit den vier „S“ über der Türschwelle aufhängt, zu seinem Nachbarn geht, diesen aus dem Haus in den Matsch jagt, auf die Knie zwingt, das Bajonett zückt und das Menschenwesen abschlachtet, den Nachbarn, den Trauzeugen, den langjährigen Freund; wenn mir das jemand rational erklärt, in einfache Elemente zerlegt, dann wird es einfacher sein zu leben. Ich glaube, eine solche Antwort gibt es nicht. Die moderne Wissenschaft, die Parapsychologie, die Religion, die Metempsychose – niemand und nichts hat eine Zauberformel für die Lösung dieser Frage, die wir alle mit unter die Erde nehmen werden.“

Die Begegnung mit dem Bösen

Wir alle haben erlebt, was Joseph Brodsky in seiner Rede an die Diplomanden des Williams College als „Begegnung mit dem Bösen“ bezeichnet hat. Ein lakonischer, einfacher Ausdruck für etwas, was wir bis ans Ende unseres Lebens zu begreifen versuchen werden. Bei einer anderen Gelegenheit beschrieb Brodsky das stalinistische System mit dem Syntagma „anthropologische Katastrophe“, das auch auf unseren Fall anwendbar ist. Auch für die offizielle Bezeichnung unserer Gesellschaftsordnung wäre es ein Kandidat. Ich lebe weder in einer Demokratie noch in einer Diktatur noch in einer Stabilokratie — sondern in einer anthropologischen Katastrophe. Von allen Bezeichnungen für diese anomische, amorphe Ordnung scheint mir dieses Syntagma am treffendsten zu sein.

Die Geschichte oder eine andere personifizierte Macht der Unterwelt hat meinem fernen Vorgänger von vor dreißig Jahren, diesem Jungen, der in der Zwischenzeit irgendwo verschwunden ist, eine Begegnung mit dem Bösen beschert. Mehrere Jahrzehnte später versucht der Mann, der „mit diesem Jungen“, wie Zbigniew Herbert über sein frühes Selbst sagt, „nichts gemein hat außer dem Geburtsdatum und der Papillarlinie“, diese juvenile Erfahrung in irgendwelche Begriffe zu übersetzen, zu verstehen, was geschehen ist, denn er hat inzwischen einen Erkenntnis- und Analyseapparat gewonnen, der dem verwirrten Junge nicht zur Verfügung gestanden hat. 

Es fällt leicht, das nationalistische Galimathias eines Dobrica Ćosić oder Matija Bećković zu demontieren und deren chauvinistische Floskeln über die „humane Umsiedlung“ oder „das teuerste serbische Wort“ auf den Kopf zu stellen, aber die Erfahrungen des einstigen Jungen zu bewältigen ist schwer. Denn weder Ćosić noch Bećković haben im Dezember 1990 Verräterlisten angefertigt, von denen, die nicht für Miloševićs Sozialistische Partei Serbiens gestimmt hatten, Erschießungslisten, auf denen sich auch die Eltern des Jungen wiederfanden. Das haben seine Nachbarn getan, die örtlichen Mitarbeiter der Geheimpolizei UDB, vielleicht für eine würdige Apanage, vielleicht aber auch freiwillig — der patriotische Elan dieser euphorischen Jahre war groß, wenigstens an Denunzianten hat es uns nie gemangelt. 

Der junge Mann, der dem Jungen das Schachspielen beigebracht und ihm die Sizilianische Verteidigung, die Italienische Partie und das Damengambit gezeigt hatte, wurde, als der Krieg begann, zu Vojislav Šešeljs Freiwilligem, zum Bauern in einer Partie, bei der die Mächtigen mit Menschenköpfen spielten. Als er aus dem slawonischen Kriegsgebiet zurückkehrte, angetrunken und mit zerrütteten Nerven, erzählte er dem Jungen, wie es ist, ein Gebiet zu säubern, eine Bombe in ein Haus zu werfen und dann zuzusehen, wie Kinderdärme durch die Luft fliegen. Der Junge hörte erschüttert und ungläubig zu, es ging ihm nicht in den Kopf, wie dieser stille und ruhige junge Mann, mit dem er bis gestern noch Nachmittage am Schachbrett verbracht hatte, sich auf einmal in etwas Monsterhaftes verwandelt hatte. Er hatte das Gefühl, der Schachspieler würde übertreiben und fabulieren. Einige Monate später nahm der Schachspieler sich das Leben. Er erhängte sich an einem Balken auf dem Dachboden seines Geburtshauses.

Diejenigen, die ihn in den Krieg getrieben haben, sind heute noch am Leben, gesund, mächtig und reich. Einer von ihnen war bis vor Kurzem Volksabgeordneter, ein anderer ist der ehemalige und ein dritter der heutige Präsident Serbiens. Der Mann, der das Geburtsdatum und den Fingerabdruck mit dem Jungen teilt, hat zu Hause noch die Bücher im Regal stehen, die ihm der Schachspieler geschenkt hat, die Biografien der Großmeister und Schachchampions Anatoli Karpow und Raúl Capablanca. Bis heute weiß er nicht, ob der Schachspieler die Wahrheit gesagt oder auf morbide Weise mit vorgetäuschten Kriegstaten geprahlt hat. Es ist schwer zu glauben, dass jemand, mit dem du aufgewachsen bist, zum Verbrecher geworden ist.  

Der Junge wurde groß, er war schon ein junger Mann, als im Kosovo Krieg geführt wurde. An diesem Krieg beteiligte sich auch ein Verwandter des Jungen, als Unteroffizier der Jugoslawischen Armee. Nach der Rückkehr wollte dieser nichts von seinem ruhmvollen Kampf erzählen. Eines Sommerabends jedoch tat der Alkohol das Seine, und der Soldat schob die Tür zu seiner Seele einen Spalt breit auf. Mit leidenschaftlichem Elan erzählte er davon, dass es nichts auf der Welt gebe, was mit den Freuden der Kriegsführung verglichen werden könne, es gebe nichts Schöneres und Aufregenderes als den Kampf, das Schießen, die Konfrontation mit dem Feind. Ihm tue nur leid, dass wir im modernen Zeitalter lebten, mit Waffen, die zwischen den gegnerischen Armeen Distanz erforderten, er misse und sehne sich nach der Zeit des Mittelalters, nach der Kosovo-Schlacht, bei der man dem Feind Brust an Brust gegenübergestanden habe, mit Messer, Säbel und nackten Händen. Er würde sich am liebsten in eine Zeitmaschine setzen, in die Vergangenheit reisen und mit den Türken raufen, um den Rausch des echten Kampfes zu spüren, den höchsten Genuss und die höchste Freude, die es auf der Welt gebe.

Dem einstigen Jungen kam Dmitri Karamasow in den Sinn, der in ähnliche Abgründe der menschlichen Seele geblickt und gesagt hatte: „Der Mensch ist weit, meine Herren, allzu weit sogar. Ich würde ihn enger machen!“ Weil das aber ein unmögliches Unterfangen ist, bleibt uns nur, das eigene Verständnis von der menschlichen Natur auszuweiten. Viele Jahre später las ich Miloš Crnjanskis Oklevetani rat („Der verleumdete Krieg“), worin noch dieser Satz steht: „Die aber, die im Krieg waren und zwischen den Toten lagen, wissen, dass der Krieg erhaben ist und es keinen höheren Moment im Leben eines Menschen gibt — es hat ihn nie gegeben — als die Teilnahme des Bewussten in der Schlacht“. Dieser Satz klang mir irgendwie vertraut, als seien wir uns schon einmal irgendwo begegnet. 

Die Abrechnung

Die Begegnung mit dem radikalen Bösen, das alles vor sich zerstört, bestimmt in den formenden Jahren unausweichlich auch das Verständnis von der Natur des Menschen, ein Verständnis, das seinen Ausgangspunkt im anthropologischen Pessimismus findet. Diese Position hat nichts mit ideologischen Neigungen zu tun, vielmehr hat sie ihren Ursprung in einer sehr konkreten und extremen traumatischen Erfahrung. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich Menschen über Nacht in Menschenfresser verwandeln, wie anständige Leute, Familienväter, angesehene Bürger, die bis dahin keiner Fliege etwas zuleide getan haben, zu Blutrünstigen werden, die zur Endabrechnung mit den „Ustascha“, den „Balije“ und den „Šiptari“ aufrufen, mit sonderbaren Entitäten, von denen sie nur eine nebelhafte Vorstellung haben, da sie ihnen meist noch nie im Leben begegnet sind. Die fehlende Empirie hat sie nicht daran gehindert, das Ausrotten anderer menschlicher Wesen zu propagieren, denn Miloševićs wütende Propaganda hat diese als Feinde definiert. 

Es gibt keinen Irrsinn, an den die Menschen nicht glauben, wenn irgendeine Autorität sie nur oft genug ausspricht. Zum Beispiel reden sie euch seelenruhig ein, Serbien befinde sich nicht im Krieg, und schicken gleichzeitig eure Nachbarn und Verwandten an die Front. Oder in Srebrenica sei kein Völkermord verübt worden, es handle sich hier um Rache an Soldaten, obwohl sie im Fernsehen das Video der „Skorpione“ gesehen haben und wie diese in Potočari Kinder töten und bestialisch verhöhnen. Wir befanden uns, wie Nadeschda Mandelstam sagt, „unter Menschen, die sich bewusst vom Guten losgesagt und sich von ganzem Herzen daran gemacht haben, die monsterhaftesten Triebe in sich und ihren Volksgenossen zu befördern.“ Es zeigte sich, dass diese Triebe nicht viel benötigen, um sich zu regen, es sind dünnhäutige Seelenmächte, die selbst auf den zartesten Reiz einer agitierenden schriftstellerischen Feder empfindlich reagieren.

Ich habe das schlimmste Gesicht des Menschengeschlechts gesehen, von Hass verzerrt, blutig und böse, gemein und niederträchtig. Ich möchte nicht generalisieren, aber ich kann mich den Schlussfolgerungen auch nicht entziehen, die der Lebenserfahrung in einer Gesellschaft entsprungen sind, die sich freiwillig auf den Weg des Zerfalls und der Zerrüttung begeben hat, als hätte die gesamte Gemeinschaft beschlossen, Selbstmord zu begehen und dabei noch jeden, der sich in der Nähe befindet, mit in den Tod zu nehmen. Die Schlussfolgerungen sind niederschmetternd, es ist schwer, mit ihnen zu leben, aber sie müssen aufgeschrieben werden. Menschen sind weder vernünftig noch human, Menschen sind völlig wahnwitzige Wesen, verzerrt, roh, böse und niederträchtig. Es gibt kein Grauen, keine Gemeinheit, keine Qual, keine Misshandlung, nichts, was ein Mensch einem anderen nicht antun würde, und das ohne jeglichen Grund, einfach nur, weil er es kann. Wenn uns das Großwerden und Heranreifen in der anthropologischen Katastrophe irgendetwas gelehrt hat, dann, dass der Mensch radikal verwerflich ist. Genau denselben Schluss hat auch Joseph Brodsky gezogen, der ebenfalls in der soeben erwähnten Gesellschaftsordnung groß geworden ist und darin gelebt hat, bis sie ihn vertrieben haben.

Diese niederschmetternde Schlussfolgerung wirkt auf den ersten Blick, ganz im Geist des anthropologischen Pessimismus, fatalistisch, doch das ist nur Schein. Denn der Mensch ist nicht radikal böse, weil es seinem Wesen entspricht, sondern weil er sich frei dafür entschieden hat, seine monsterhaften Triebe von der Kette loszulassen. Wenn wir die Erkenntnis akzeptieren, dass der Mensch radikal verwerflich ist, also fähig zum furchtbarsten Bösen, dann ließe sich darauf auch etwas aufbauen. Die Akzeptanz dieser Vorstellung könnte zum Beispiel der erste Schritt zur Bewusstwerdung Serbiens sein, zur Auseinandersetzung mit dem Verbrechen, das in unserem Namen begangen worden ist. Zu glauben, dass wir potenzielle Verbrecher sind, ist näher an der Wahrheit, bescheidener und weniger gefährlich als zu glauben, wir wären himmlische Engel. 

Im ersten Fall errichten wir die Gesellschaft auf der Vorstellung, dass wir die anderen vor unserer Bosheit bewahren müssen. Genau darauf gründet doch wohl jede Rechtsordnung. Wozu sonst dienen die Gesetze? Der gegenteilige Fall, wenn wir uns für erhabene Wesen halten, für Übermenschen, Angehörige eines himmlischen Volkes — wohin dieser führt, wissen wir. Mitten hinein in Gewalt, Verbrechen, Genozid und Faschismus. Das ist die einzige Lehre, die ich aus dem alles umfassenden Zerfall ziehen kann, der einzige Hoffnungsschimmer in der geballten Finsternis. Vielleicht ist es gut, dass der Junge spurlos verschwunden ist, sodass ich ihm nicht verkünden kann, zu welchen Erkenntnissen ich gekommen bin, wohin mich seine qualvolle Erfahrung geführt hat. So wie ich ihn kenne, würde er auf all dies nur verächtlich abwinken und meine Überlegungen zum falschen Trost eines mittelalten Mannes erklären, der mit der Welt einen Pakt zu schließen versucht. Wenn mich das trügerische Gedächtnis nicht täuscht, war er ein erbitterter Gegner jeglicher Kollaboration mit der mürrischen Struktur des Universums. 


Dieser Artikel ist Teil des Projekts Archipel Jugoslawien von Traduki. Er wird in Zusammenarbeit mit der S. Fischer Stiftung veröffentlicht.


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