Reportage Krieg in der Ukraine

Nostalgie, Arbeitslosigkeit oder Geldmangel: Warum die Russ*innen nach Russland zurückkehren

Etwa eine Million Russ*innen sind aus ihrem Land geflohen, als die Invasion der Ukraine begann. Aber Nostalgie, Geldmangel, Arbeitslosigkeit oder schlechte Behandlung im Ausland haben viele gezwungen, in ihre Heimat zurückzukehren. Für diejenigen, die das Land verlassen haben, ist die Rückkehr in ihr früheres Leben jedoch gar nicht so einfach.

Veröffentlicht am 26 Oktober 2023 um 09:32

Zehntausende Bürger*innen Russlands, die ihr Land verlassen haben, nachdem Wladimir Putin 2022  seine groß angelegte Invasion der Ukraine gestartet hatte, kehren in ihr Heimatland zurück.

Einige müssen dies tun: Die Länder, in die sie ausgewandert sind, verweigerten ihnen das Recht zu bleiben. Andere wollen den Lebensstandard wiedererlangen, den sie in Russland gewohnt waren, nachdem sie im Ausland wenig Erfolg hatten. Oft fiel es ihnen schwer, sich an ihr neues Leben anzupassen – selbst bei Gesprächen mit Freunden hatten sie Angst, von russischen Spion*innen oder Behörden, die mit Russland in Verbindung stehen, abgehört zu werden.

Pjotr*, ein 23-jähriger Marketingspezialist aus Moskau, kehrte im Juni letzten Jahres aus Zentralasien nach Russland zurück. Er gehörte zu denen, die nach der Invasion überstürzt ausreisten. Er ist nicht lange im Ausland geblieben.

„Als ich per SMS einen Einberufungsbescheid erhielt, bekam ich Angst. Das war einer der Gründe, nicht zurückzukehren“, sagte Pjotr gegenüber openDemocracy. „Aber ich bin ein Fatalist, und meine Liebe zu Moskau – oder zur Routine, vielleicht, ich kann es nicht genau sagen – war größer als die Risiken.“

„Die allgemeine Atmosphäre [in Russland] ist mir völlig egal. Ich habe keine Angst und keine Hoffnung. Alles in meiner Seele scheint ausgetrocknet zu sein. Ich habe zwei Wochen lang überlegt, ob ich [das Land, in dem ich mich aufhielt] verlassen sollte oder nicht, bevor ich mich dazu entschloss“, sagte er.

Seit seiner Rückkehr führt Pjotr in Moskau denselben Lebensstil wie zuvor: Er arbeitet, trifft sich mit seinen Freunden, besucht dieselben Bars. Seine Firma hat ihm zugesagt, ihn von der Wehrpflicht zu befreien, wodurch er sich ein wenig sicherer fühlt. Aber er ist immer noch misstrauisch gegenüber Risiken und verhält sich vorsichtiger.

Menschen wie Pjotr, die nach ihrer anfänglichen raschen Ausreise nach Russland zurückgekehrt sind, gibt es viele Tausende.


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Nach Angaben der russischen Sicherheitsdienste wurden zwischen Juli und September 2022 9,7 Millionen Auslandsreisen registriert. Soziolog*innen, Demograph*innen und Journalist*innen berechneten unabhängig voneinander die Zahl der Staatsbürger*innen, die ausgereist sind und einen ständigen Wohnsitz in anderen Ländern erhalten haben, und kamen zu dem Schluss, dass es sich um mindestens eine Million Menschen handelt.

Im Juni 2023 erklärten die russischen Behörden, dass 50 % der russischen Bürger*innen, die das Land zu Beginn des Krieges verlassen hatten, inzwischen zurückgekehrt sind. Wie viele Menschen wirklich zurückgekommen sind, weiß aber niemand mit Sicherheit.

Umgesiedelt oder ausgewandert?

Die Soziologin Lyubov Borusyak hat Russ*innen befragt, die das Land seit der Invasion im Februar 2022 verlassen haben.

Im letzten Frühjahr sagte die Mehrheit der von ihr befragten Personen, sie seien „umgesiedelt“ und nicht „ausgewandert“, sagt sie. Vor dem Krieg beschrieb man mit dem Begriff ‚umgesiedelt‘ Russ*innen, die mit dem Unternehmen, das sie beschäftigt, in ein anderes Land gezogen waren, aber bald wurde er auch für den Akt verwendet, Russland für eine Weile, aber nicht für immer zu verlassen.

Die meisten derjenigen, die Russland verlassen haben, wollten sich genau so sehen: als Fachkräfte, die sich vorübergehend in einem anderen Land aufhalten und trotzdem ihr gewohntes Gehalt und ihren Lebensstandard beibehalten.

Die Mehrheit der von Borusyak im Frühjahr 2022 befragten Personen hatte angegeben, „umgesiedelt“ zu sein. Dies änderte sich, als die Soziologin im Herbst 2022 und im Frühjahr 2023 neue Umfragen durchführte: Viele begannen zu sagen, sie seien „ausgewandert“. Andere erklärten, sie seien „vorübergehend weggezogen“ oder bezeichneten sich abwertend als „Ausgewanderte“. Einige sagten einfach, sie hätten „keinen Namen“ für ihre Situation.

Die letztgenannte Kategorie beschreibt vielleicht am besten die Situation derjenigen, die vorhatten, Russland nur für ein oder zwei Monate zu verlassen und sich zu überlegen, wie es weitergehen soll, aber auf häusliche, bürokratische und finanzielle Schwierigkeiten stießen.

Das trifft auf den 25-jährigen Maxim zu: „Meine einzige Idee war: weg von all den Nachrichten, mein Gehirn neu starten und anfangen, normal zu leben und zu arbeiten.“

Maxim gehört zu den 20 Russ*innen, die kürzlich nach Russland zurückgekehrt sind oder dies in naher Zukunft planen und die openDemocracy zwischen Februar und März 2023 interviewt hat. Die meisten sagten, sie hätten nicht versucht, in dem Land, in das sie umgezogen waren, eine andere Arbeit zu finden – entweder arbeiteten sie aus der Ferne für russische Firmen oder lebten von ihren Ersparnissen – und waren nicht bereit, eine Verschlechterung ihres Lebensstandards hinzunehmen.

Für viele Russ*innen endete die „Umsiedlung“ mit einer „Rück-Umsiedlung“ – einer Rückkehr nach Russland in der Hoffnung, ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen zu können. Doch für die meisten von ihnen erwies sich diese Hoffnung als Illusion.

‚Verzweiflung und Verwirrung‘

Vadim, 26, zog im September 2022 von St. Petersburg nach Batumi, Georgien, nachdem die teilweise Mobilisierung in Russland angekündigt worden war.

Er besprach den Umzug mit seinen Eltern und seiner Frau. „Wir waren der Meinung, dass die Gefahr der Mobilisierung größer war als die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren“, sagte er. „Wir haben drei oder vier Tage gebraucht, um uns zu entscheiden. Dann buchte ich einen günstigen Flug nach Kasachstan, und dann einen Flug nach Georgien.“


Wer Russland verlässt, begibt sich oft auf eine Reise mit unklaren Aussichten – aber die Aussichten nach der Rückkehr sind ebenso unklar


Vadims Frau ging mit ihm; sie entschieden sich für Batumi, wegen des Seeklimas und der erschwinglichen Wohnungspreise. Vadim verlor sofort seinen Job, da sein Arbeitgeber nicht wollte, dass er aus der Ferne arbeitet.

Vadim sagte, er habe sich zur Rückkehr nach Russland entschlossen, weil seine Frau im März ihre Stelle aufgeben musste und es unmöglich schien, außerhalb Russlands Arbeit zu finden.

„Wir haben beschlossen, dass wir nach dem Ende unseres Mietvertrags nach Russland zurückkehren, um eine neue Arbeit zu finden, Erfahrungen zu sammeln und dann nach einer dauerhaften, gut bezahlten Arbeit im Ausland zu suchen. Das kann ein paar Jahre dauern“, so Vadim.

„Wir konzentrieren uns auf unsere Finanzen – aus einem anderen Grund wären wir nicht zurückgegangen. Wir verfolgen auch die Nachrichten über die Mobilisierung. Wir sind darauf vorbereitet, dass sie in vollem Umfang wieder aufgenommen werden könnte und dass wir uns verstecken müssen.“

Viele Menschen, die sich beeilten, Russland zu verlassen, hatten große Hoffnungen, dass sie ihre gewohnten Arbeitsplätze behalten und aus der Ferne arbeiten würden – die einzige Garantie für Stabilität unter den veränderten Umständen. Viele dachten nicht einmal daran, sich an einem neuen Ort nach einem Arbeitsplatz umzusehen.

Das Anti-Kriegs-‚Schweigen‘

Fast niemandem ist es gelungen, in das Leben zurückzukehren, das er führte, bevor er Russland verließ. Das Gefühl der ständigen Bedrohung, das über ihnen und ihren Angehörigen schwebt, zwingt diejenigen, die zurückgekehrt sind, sich im eigenen Land zu verstecken.

Die meisten Rückkehrer*innen, mit denen openDemocracy gesprochen hat, leben nicht an ihrem offiziellen Meldeort. Sie fürchten Konsequenzen, weil sie das Land verlassen oder sich online über den Krieg geäußert haben. Sie sagen, es sei wichtig, an öffentlichen Orten nicht aufzufallen und Orte zu meiden, an denen sich Polizei aufhalten könnte. Viele überwachen auch ihre digitale Sicherheit.

„Ich bin LGBTQ+ und gehe jetzt nicht mehr in Kleidung aus, die Verdacht erregen könnte. Ich trage kein Make-up auf. Ansonsten gelten folgende Regeln: vorsichtiger kommunizieren, nicht an dem Ort wohnen, an dem man offiziell gemeldet ist, niemandem seine genaue Adresse sagen und sogar vorgeben, auf einer anderen U-Bahn-Linie zu wohnen“, sagt Alex aus Moskau.

Zukunftspläne

Borusyaks Untersuchung ergab, dass es sich bei denjenigen, die Russland 2022 verlassen haben, um „recht erfolgreiche Menschen handelt, die an einen relativ komfortablen Lebensstandard gewöhnt sind“. Unter den ‚Umsiedler*innen‘ gibt es viele, die bereits „über ein sehr großes soziales und berufliches Kapital verfügen und nur im Falle einer direkten Bedrohung des Lebens bereit sind, dieses vollständig zu verlieren“, erklärte sie.

Laut Borusyak wird die derzeitige Situation dadurch entschärft, dass viele der Ausgewanderten immer noch im Ausland für russische Unternehmen oder in den internationalen Niederlassungen russischer Unternehmen arbeiten. „Ich denke, wenn dieser Hahn zugedreht wird, wird es viele Rückkehrer*innen geben“, so die Soziologin. Seit dem Winter 2022 bereitet die russische Regierung eine Liste von Berufen vor, die nicht aus der Ferne arbeiten dürfen, muss aber noch ein entsprechendes Gesetz verabschieden.

Die Menschen beginnen zu hoffen, dass der Krieg sie nicht persönlich betreffen wird.

Einige der von openDemocracy befragten Personen sagten, sie seien sich der Risiken einer Rückkehr nach Russland bewusst – die Wiederaufnahme der Mobilisierung und mögliche Einschränkungen durch den Staat. Dennoch versuchen viele, „irgendwie durchzukommen“ und „nicht in Schwierigkeiten zu geraten“.

Der Schock des Umzugs und der Schock der Rückkehr, der Verlust des beruflichen Umfelds und der finanziellen Stabilität sind nur ein Teil dessen, was die Rückkehrer*innen aus erster Hand erfahren haben. Für einige ist der Versuch, in ein anderes Land zu ziehen, zu einem der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben geworden und hat zu einer völligen Veränderung ihrer beruflichen Laufbahn und ihrer Zukunftspläne geführt. Doch viele sind sich der Bedeutung dieser Erfahrung in ihrem Leben nicht bewusst.

Wer Russland verlässt, begibt sich oft auf eine Reise mit unklaren Aussichten – aber die Aussichten nach der Rückkehr sind ebenso unklar. Die 30-jährige Daria aus Moskau beschreibt das mit folgenden Worten: „Im Großen und Ganzen hat man das Gefühl, dass sich alle beruhigt und vergessen haben, was passiert, und alles scheint in den alten Trott zurückzukehren, nur dieses Mal ein bisschen schlimmer.“

👉 Originalartikel auf openDemocracy.

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